Bilder: Universal Pictures International Fotos: Universal Pictures International
  • Bewertung

    Die unheilbaren Wunden eines ziellosen Tattoo-Künstlers

    Exklusiv für Uncut
    Hierzulande dürfte Pete Davidson den meisten wohl am ehesten noch als Ex-Verlobter von Pop-Sternchen Ariana Grande ein Begriff sein, deren Beziehung nach nur wenigen Monaten schon wieder in die Brüche ging. Dabei hat sich der gebürtige New Yorker durch sein Auftreten in der populären US-Sketchshow „Saturday Night Life“ über die Jahre eine nicht minder beachtliche Karriere als Stand-Up-Comedian aufgebaut. Der Humor und die aufdringliche Persönlichkeit des Komikers polarisieren jedoch. Was viele aber nicht wissen ist, dass hinter der lässigen und von Tätowierungen gezeichneten Fassade ein tieftrauriges Individuum mit tragischer Vergangenheit steckt. Davidsons eigener Vater, der einst in New York als Feuerwehrmann im Einsatz war, musste nämlich im Zuge der verheerenden Terroranschläge vom 11. September 2001 sein Leben lassen. Ein traumatisches Ereignis, das Wunden in seinem Sohn hinterließ, die bis heute nicht verheilt sind. Um sich den Dämonen seiner Vergangenheit zu stellen, entschied sich der heute 26-Jährige dazu, einen semi-autobiographischen Film zu drehen. Im fertigen Film mit dem schönen Titel „The King of Staten Island“ geht Davidson, der auch selbst die auf ihm basierende Hauptfigur Scott (benannt nach seinem tatsächlichen Vater) verkörpert, der Frage nach, wie sein Leben wohl verlaufen wäre, hätte er nie Bekanntheit als Komiker erlangt.

    Im Regiestuhl nahm niemand geringerer als Comedy-Tausendsassa Judd Apatow (u.a. „Jungfrau (40), männlich, sucht…“, „Beim ersten Mal“, „Wie das Leben so spielt“) Platz, der auch gemeinsam mit Davidson und Dave Sirus das Drehbuch beisteuerte.

    Die Tragikomödie widmet sich dem 24-jährigen Scott Carlin (Davidson), einem Highschool-Abbrecher, der immer noch mit seiner Mutter Maggie (Marisa Tomei) zusammenlebt und einen nicht gerade aufregenden Alltag führt. Zwar hat er das große Ziel vor Augen eines Tages als erfolgreicher Tätowierer zu arbeiten, schafft es aber nicht wirklich seine eigene Faulheit zu überwinden, um seinen Ambitionen konsequent nachzugehen. Viel lieber verbringt der Mittzwanziger seine Zeit damit, sich mit Freunden zu treffen, zu kiffen und ziellos vor sich hinzuleben. Neben ein paar medizinischen Problemen (wie beispielsweise ADHS), fühlt sich Scott vor allem von den Erinnerungen an seinen gutmütigen Vater geplagt, der vor sieben Jahren als Feuerwehrmann bei einem Hotelbrand (in der fiktionalisierten Variante wird der 9/11-Hintergrund außen vor gelassen) ums Leben gekommen war. Als Maggie anfängt einen temperamentvollen Feuerwehrmann namens Ray (Bill Burr) zu daten, wird Scotts Beziehung zu seiner Mutter auf eine harte Probe gestellt und das durch den Tod seines Vaters ausgelöste Trauma kommt wieder besonders zum Vorschein. Da das gemeinsame Zusammenleben nicht mehr zu funktionieren scheint, wird Scott nach einer gewissen Zeit dazu aufgefordert, sich eine eigene Wohnung zu suchen und endlich unabhängig zu werden. Nun sieht sich der angehende Tattoo-Künstler also dazu gezwungen, sich der eigenen Vergangenheit zu stellen und endlich selbst im Leben Fuß zu fassen. Der Weg dorthin gestaltet sich aber nicht gerade einfach…

    Wer sich basierend auf der Vita Apatows und Davidsons einen Schenkelklopfer nach dem anderen erwartet, wird den Kinosaal wohl eher enttäuscht verlassen müssen. Im Grundkern handelt es sich bei Apatows neuestem Film nämlich um ein für den Regisseur ungemein reifes Werk, in dem jegliche Gags eher nur als Beiwerk dienen, anstatt als Hauptantrieb. In Symbiose mit Davidson ist dem Comedy-Filmemacher ein sichtlich persönliches und ehrliches Portrait eines jungen Mannes gelungen, der lernen muss, die Dämonen seiner Vergangenheit zu konfrontieren, um als Person wachsen zu können.

    Im Gegensatz zu Apatows anderen Filmen, die zumeist auf bewusst überspitzte Situationskomik inklusive der für Comedy oft benötigten Stereotype setzten, bleibt hier keine einzige handelnde Figur eindimensional. Nein – „The King of Staten Island“ strotzt nur so vor Authentizität, die einen jeden auftauchenden Charakter mit Leben füllt. Der angestrebte Realismus wird durch das Schauspiel aller Beteiligten sogar noch verstärkt. Pete Davidson, dem das Filmprojekt wohl selbst als Therapie diente, beeindruckt mit durch und durch natürlichem Spiel, das eine Verwundbarkeit in ihm als Darsteller offenlegt, die man bisher noch nicht zu Gesicht bekam. Oscar-Preisträgerin Marisa Tomei und US-Comedian Bill Burr laufen in ihren Rollen ebenso zur Höchstform auf und punkten sowohl mit präzisem komödiantischem Timing als auch mit glaubhaftem Gespür für ernstere Töne.

    Dank der grobkörnigen Aufnahmen von Kameramann Robert Elswitt (bekannt für seine Zusammenarbeiten mit Star-Regisseur Paul Thomas Anderson) besticht die Tragikomödie auch mit einem ungeahnt ästhetischem Gespür für New Yorks Inselbezirk Staten Island als Schauplatz, das einem als Zuschauer verhilft, problemlos in das Setting eintauchen zu können.

    Meistens werden Apatow die oft elendslangen Laufzeiten seiner Filme zum Verhängnis. Auch sein neuestes Werk gerät im Mittelteil das ein oder andere Mal in Leerlauf und schafft es nicht ganz seine Lauflänge von knapp zweieinhalb Stunden zu rechtfertigen. Man könnte nun aber auch meinen, dass die vor sich dahinplätschernde Natur des Films das oft ziellose und chaotische Gemüt seiner Hauptfigur passend unterstreicht.

    Jedenfalls lässt sich zusammenfassend sagen, dass Judd Apatow mit „The King of Staten Island“ eine ungeahnt tiefgründige und durch und durch authentische Charakterstudie mit tragikomischen Zügen geschaffen hat, in der sich Pete Davidson dem Publikum gegenüber öffnet wie nie zuvor und dabei unerwartet ernste Seiten zeigt.

    Schmerzhaft, befreiend, ergreifend und ehrlich - therapeutisches Gefühlskino vom feinsten!
    1705313743158_ee743960d9.jpg
    (Christian Pogatetz)
    07.08.2020
    19:53 Uhr