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  • Bewertung

    Betrug als Weg zur Erleuchtung

    Exklusiv für Uncut
    Eine Person gibt sich als jemand aus, die sie eigentlich nicht ist, findet schnell Gefallen am neuen Beruf und erschleicht sich dadurch ungeahnte Anerkennung, die sie zu einem besseren Menschen reifen lässt. Ein altbewährtes Prinzip, das seit Jahrzehnten im Kino immer wieder verwendet wird und durch Klamauk-Komödien á la „Fack ju Göhte“ auch schon große Erfolge beim breiten Publikum verbuchen konnte. Was denn aber nun, wenn dieses in der Regel mit Leichtfüßigkeit und Spaß assoziierte Prinzip auf eine geerdete Charakterstudie mit tragischen Untertönen übertragen wird? Dann dürfte dabei wohl ein Film wie das polnische Drama „Corpus Christi“ herauskommen. Der oscarnominierte Streifen von Regisseur Jan Komosa wurde von wahren Ereignissen inspiriert, laut denen es einem damals erst 19 Jahre jungen Mann Anfang der 2010er gelang, sich für mehrere Monate glaubhaft als Pfarrer auszugeben.

    Die fiktionalisierte Spielfilmvariante des Vorfalls handelt vom 21-jährigen Daniel (Bartosz Bielenia), der gerade erst auf Bewährung aus der Jugendstrafanstalt entlassen wurde. Da der junge Mann während seiner Haft zum christlichen Glauben gefunden hat, ist es sein großer Traum nach seiner Entlassung das Priesterseminar zu besuchen. Sein krimineller Hintergrund lässt dies jedoch nur schwer zu. Nachdem er in ein kleines Dorf geschickt wird, in dem er nach seiner abgeschlossenen Zeit im Jugendknast eine Stelle im dortigen Sägewerk zugewiesen bekommt, gelingt es ihm auf Umwegen doch noch seinem Traumberuf nachzugehen. Denn als der Ex-Insasse an einem Gottesdienst in einer örtlichen Kirche teilnimmt und der jungen Frau Marta (Eliza Rycembel) vorgaukelt, Priester zu sein, hat dies ungeahnte Folgen. Tatsächlich kaufen die Dorfbewohner*innen dem Schwindler seine Lüge voll und ganz ab und befördern diesen - während der entzugsbedingten Abwesenheit des eigentlichen Dorfpfarrers – gar zum neuen Priester ihrer Gemeinde. Was als leichtfüßiger Betrug angefangen hat, bewirkt bald aber schon tatsächliche Wunder. Der einstige Kriminelle geht in seiner neuen Berufung völlig auf und seine unorthodoxe Methoden stoßen auch bei der sonst so konservativen Kirchengemeinde auf großen Zuspruch. Mit seinen zumeist improvisierten Messen trifft der Neo-Priester einen Nerv bei den Bewohner*innen und schenkt dem von einer schweren Tragödie immer noch gezeichneten Dorf neue Hoffnung. Als Daniel sich dazu entschließt, dieses schwere Tabuthema aufzugreifen und den damaligen Vorfall etwas genauer unter die Lupe zu nehmen, bekommt er es mit der Heuchelei der Gläubigen zu tun.

    Eine Prämisse wie diese hätte vermutlich leicht in ein komödiantisches Gewand gesteckt werden können. Und stellenweise macht es auch den Anschein, als wolle Jan Komosa seinen Film in eine eher lockere und beschwingte Richtung bewegen wollen. Die Tragik, die der Geschichte eigentlich zugrunde liegt, offenbart sich nur schleichend und erreicht in einem ungeahnt zerschmetternden Finale ihren dramatischen Höhepunkt.

    Die Hintergründe, die zur Inhaftierung des Protagonisten führten, werden zunächst außen vor gelassen. Hier und da gibt es zwar vage Andeutungen seiner Vergangenheit, die eigentliche Auflösung folgt aber erst recht spät. Dadurch gelingt es Regisseur Komosa eine Figur zu zeichnen, die trotz ihrer kriminellen Vergangenheit und fraglicher Schwindeleien, die Sympathien des Publikums für sich gewinnen kann. Ein maßgeblicher Faktor dafür dürfte auch die durch und durch fesselnde Schauspieldarbietung von Hauptdarsteller Bartosz Bielenia sein. In den anfänglichen Momenten noch eher zurückhaltend und subtil, sind es vor allem die späteren Gottesdienst-Szenen, in denen der polnische Newcomer zur Höchstform aufspielt und die den Film mit Leben füllen. Wenn Daniel der Dorfbevölkerung mit seinen ungewöhnlichen Methoden eigens zusammengebastelte Predigten mit überraschend viel Wahrheitsgehalt aufsagt, kann man sich der lebensbejahenden Energie dieser aufgrund von Bielenias elektrisierendem Spiel kaum entziehen.

    Das virtuos in Szene gesetzte Charakterdrama vermischt rauen Realismus mit menschlicher Hoffnung, die vom christlichen Glauben ausgeht. Während es aber in der ersten Hälfte noch den Anschein macht, als würden Hoffnung und Mitgefühl die Überhand gewinnen, wird später klar, dass der Film auch vor einer kritischen Betrachtung vermeintlich gutgläubiger Christ*innen in keinster Weise zurückschreckt. Die Scheinheiligkeit der christlichen Gemeinde wird besonders sichtbar, wenn vergangenes Unrecht wiedergutgemacht werden soll. Plötzlich erweisen sich religiöse Kampfbegriffe wie ‚Vergeben und Vergessen‘ als abgedroschene Phrasen, die wenig mehr Zweck erfüllen, als das eigene Gewissen zu beruhigen. Der eigentliche Hochstapler stellt sich nach und nach als der vermutlich einzig wahre Christ innerhalb eines zutiefst religiösen Dorfes heraus, das genau dann seine Werte verrät, wenn es unbequem wird. Neben der Heuchelei der Gläubigen wird auch die Korruption der katholischen Kirche thematisiert. Diese korrupte Ader kommt besonders durch das Auftreten des zwielichtigen Bürgermeisters zum Vorschein, der Druck auf die örtliche Kirche ausübt, um stets das zu bekommen, was er möchte. Als Daniel auf dessen Erpressungsversuche nicht einsteigen will, dauert es nicht lang bis die halbe Kirchengemeinde gegen ihn aufgehetzt wird. Elemente wie diese vermittelt Komosas Drehbuch aber nicht mit erhobenem Zeigefinger, sondern mit einem angenehm ambivalenten Blick auf die Dinge, der die Komplexität der gezeigten Sachverhalte nie außer Acht lässt.

    Schlussendlich handelt es sich bei „Corpus Christi“ um ein ergreifendes Charakterportrait mit hoffnungsvoller Verpackung, das sich – je tiefer sich der Film in den eigentlichen Kern hineingräbt – als unerwartet düstere Auseinandersetzung mit Widersprüchlichkeiten innerhalb der katholischen Kirche entpuppt. Das Drama mündet in ein erschütterndes Ende, bei dem es manch zartbesaitetem Zuschauer wohl die Magengrube umdrehen wird, das in seiner entlarvenden Schonungslosigkeit aber wohl kaum passender gewählt hätte werden können.

    Ein filmischer Gottesdienst, der Zuschauer*innen zunächst ein Gefühl von Hoffnung wiederentdecken lässt, bis er einem im letzten Drittel unentrinnbar in menschliche Abgründe entführt. Großartiges Kino aus Polen!
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    (Christian Pogatetz)
    06.09.2020
    08:05 Uhr