Filmkritik zu Soul

Bilder: The Walt Disney Company Fotos: The Walt Disney Company
  • Bewertung

    Ein Musiker auf seelischen Abwegen

    Exklusiv für Uncut
    Animationsschmiede Pixar war einst noch ein Garant für originelle Ideen. Im vergangenen Jahrzehnt schien es dann aber so, als würde sich das Hauptaugenmerk von Disneys Tochterfirma immer mehr auf Fortsetzungen vorangegangener Erfolgsproduktionen lenken. Ein im heutigen Hollywood schwer vermeidbarer Teufelskreis, vor dem bisher kaum ein Studio gefeit war. Während die letzten beiden „Toy Story“-Filme aber eindrücklich zeigten, dass selbst Fortsetzungen noch vor Kreativität sprühen können, lieferten die beiden uninspirierten Sequels der Marke „Cars“ den traurigen Gegenbeweis für diese These. Wie Pixar im letzten Jahr jedoch verlautbaren ließ, möchte man sich unter der neuen Führung von Regie-Altgestein Pete Docter („Die Monster-AG“, „Oben“, „Alles steht Kopf“), der John Lasseter in seiner langjährigen Funktion als künstlerischer Leiter der Firma ablöste, in Zukunft wieder vermehrt auf originelle Geschichten fernab des vorherrschenden Fortsetzungswahns fokussieren. Kurz vor Beginn der Corona-Pandemie war das Computeranimationsstudio mit „Onward“ im mehrfachen Sinne bereits daran versucht, die verloren gegangene Magie wiederherzustellen – mit eher mäßig zufriedenstellenden Ergebnissen. Mit ihrem neuesten Beitrag „Soul“, bei dem Docter auch gemeinsam mit Kemp Powers ("One Night in Miami") die Regie übernahm, konnten die kreativen Köpfe Pixars ihr selbstauferlegtes Versprechen nun aber gänzlich erfüllen. Das Drehbuch wurde neben Regisseur Docter und Powers von Mike Jones mitverfasst.

    Bevor wir Euch genauer erklären, warum es sich bei „Soul“ um ein wahres Feuerwerk der Kreativität und einen der strahlenden Lichtblicke in diesem turbulenten Jahr handelt, folgt zunächst noch ein kleiner Einblick in die Handlung des Films:

    Im Zentrum des neuesten Pixar-Werks steht der afroamerikanische Schulmusiklehrer Joe Gardener (im Originalton: Jamie Foxx), der eigentlich gern als respektierter Jazz-Pianist auf der großen Bühne stehen würde. Obwohl Joe leidenschaftlich für die Musik brennt, konnte er sich seinen Lebenstraum bis dato aber noch nicht erfüllen. Ausgerechnet als sich dem Middle-School-Lehrer eine möglicherweise lebensverändernde Gelegenheit auftut, fällt er seiner kopflosen Euphorie wegen in eine unabgedeckte Kanalöffnung hinein und scheint im Sterben zu liegen. Die Seele des Vollblutmusikers (als bläulicher Blob visualisiert) befindet sich plötzlich auf einem Förderband, das sich in Richtung Jenseits („The Great Beyond“) bewegt. Da Joe sich seine Pläne nicht so einfach vom Tod durchkreuzen lassen möchte, läuft er in die entgegengesetzte Richtung und landet schließlich im sogenannten „The Great Before“ (auch: „You Seminar“). Hierbei handelt es sich um einen Ort, an dem Seelen ausgebildet und ihnen Persönlichkeiten zugewiesen werden, bevor man diese dann auf die Erde entsendet und sie (allen Anschein nach) in neugeborene Babys einpflanzt. Dort angekommen wird Joe aufgrund der ausgereiften Form seiner Seele für einen Mentor gehalten und soll sich fortan um No. 22 (OT: Tina Fey) kümmern, einem rebellischen Seelchen, das schon seit langer Zeit im „Great Before“ festsitzt. Mentoren sollen den auszubildenden Seelkörpern dabei helfen, ihren persönlichen „Funken“ zu entdecken, um einen Erdpass gewährt zu bekommen. Tatsächlich hegt 22 aber keinerlei Ambitionen, auf die Erde geschickt zu werden und möchte viel lieber weiterhin als Einzelgänger in der Vorwelt verweilen. Joe setzt dennoch alles daran, wieder als Lebender auf die Erde zurückzukommen und seinen großen Traum Realität werden zu lassen.

    Schon in seinem rundum gelungenen Vorgängerfilm „Inside Out“ ging Pete Docter der Frage nach, wie denn unser aller Gefühlsleben funktioniert. Auch hier versucht man herauszufinden, welche Prozesse uns als Menschen vorantreiben und wie wir einzigartige Persönlichkeiten entwickeln, die uns dabei verhelfen, den Alltag zu bewältigen. Während sich der vorhin erwähnte „Inside Out“ jedoch eher einfacheren Konzepten widmete, dringt „Soul“ ungeahnt tief in die Komplexitäten des menschlichen Verstands ein. Mit Sicherheit handelt es sich daher bei Pixars neuem Film um das bislang erwachsenste Werk der Animationsfilmschmiede, das aufgrund seiner emotionalen Intelligenz und der reifen Themen, die behandelt werden, wohl vorrangig auf ein älteres Publikum zugeschnitten sein dürfte.

    Mit dem Animationsstil wagt man sich hier in abstrakte Gefilde vor, die einen in ihrem visuellen Ideenreichtum wahrlich zum Staunen bringen werden. Schon die anfängliche Darstellung der Treppe in den Tod beeindruckt in ihrer schonungslos unheimlichen Visualisierung, die jüngere Zuschauer*innen eventuell in Angst versetzen könnte. Im Gegensatz zum Weg ins „Great Beyond“, das als kalte, schwarze Leere gezeigt wird, wird die Vorwelt, das „Great Before“, als kunterbunter Platz voller unschuldiger Neugierde und Leben präsentiert. Die dort ansässigen Ratgeber, die allesamt den Namen Jerry tragen, erinnern in ihrer eigensinnigen 2D-Darstellung an Linienzeichnungen eines Pablo Picasso. Der charmant-trockene (und oft auch existentialistisch angehauchte) Humor lässt sich zu weiten Teilen auf die eben genannten Figuren zurückzuführen, denen ein paar der unterhaltsamsten Zitate und Wortmeldungen des Films zuteil wurden.

    Auch auf musikalischer Seite zeigt man sich hier besonders experimentierfreudig. So wird die Welt der Menschen von einem jazzigen Score von Jon Batiste begleitet, während die Sequenzen im „Great Before“ mit elektronischen Kompositionen der beiden Oscar-Preisträger Trent Reznor und Atticus Ross untermalt wurden.

    Die Szenen, die Pixars neuen Geniestreich auf emotionaler Ebene vorantreiben, sind aber genau diese, die sich nicht in der Welt der Seelen, sondern auf Erden abspielen. Die intimeren Momente in der Welt der Menschen strotzen nur so vor roher und glaubwürdiger Emotion, die dem Publikum teilweise gar vergessen lässt, dass man sich hier gerade eigentlich etwas Animiertes zu Gemüte führt. Wie nie zuvor, gelingt Pixar hier das Kunststück, einen Film zu kreieren, der sich zur selben Zeit surreal und fern jeglicher Realität aber auch unerwartet geerdet und menschlich nachvollziehbar anfühlt.

    Die ideenreiche und mit flottem Tempo erzählte Geschichte hält auch ein paar unerwartete Wendungen parat, die Zuschauer*innen stets auf Trapp halten und nie Langeweile aufkommen lassen. Das animierte Drama mündet schlussendlich in einem überraschend profunden Schlussfazit, das dem Publikum, ohne sich auf generischen Kitsch berufen zu müssen, die emotionale Tragweite zu spüren gibt, die Pixar einst auszeichnete.

    Mit „Soul“ finden Pete Docter und sein Pixar-Team nicht nur zu alter Stärke zurück, sondern haben gleichzeitig auch noch eines der bisher mutigsten, originellsten und emotional komplexesten Werke im Gesamtkatalog des populären Animationsstudios geschaffen, das einen zusätzlich noch mit lebensbejahender Kraft und Hoffnung belohnt.

    Filmischer Balsam für die Seele, der in einem Katastrophenjahr wie diesem notwendiger denn je ist!
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    (Christian Pogatetz)
    12.12.2020
    12:45 Uhr