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  • Bewertung

    Ruhiger Blick in den Zerriss einer Gesellschaft

    Exklusiv für Uncut von der Berlinale 2019
    Es ist eine Welt, oder vielmehr ein Ort voller Mysterien, die der Film „Ghost Town Anthology“ des ehemaligen Filmkritikers und nunmehrigen Regisseurs Denis Côté präsentiert. Eine langsam sich aufbauende Aura in einem ländlichen Dorf, das sich krampfhaft gegen Veränderung und sein Aussterben wehrt. Côté navigiert dabei geschickt zwischen dem Stil seiner nicht-fiktionalen Essays wie „Bestiaire“ und „A Skin So Sof“ und seinen exzentrischen elliptischen Narrativen wie „Vic + Flow Saw a Bear“.

    Gefilmt in 16mm um einen körnigen stilgebenden Effekt zu erreichen und in fast monochromer Farbgebung, ist „Ghost Town Anthology“ ein Ensemblefilm der sich mit dem Themen des „Anderen da draußen“ so wie dem Überleben von kleinen Städten auseinandersetzt. Der Film widmet sich dem Thema in einer sehr ruhigen Art und Weise, die dem Zuschauer mit seinem zurückhaltenden melancholischen Ton Geduld abverlangt, aber nie langweilt.

    Die Handlung setzt ein als ein Auto plötzlich in einen Betonpfeiler kracht und eine Gruppe maskierter Kinder auftaucht um den Unfall zu begutachten. Das Opfer ist der 21-jährige Simon Dubé (Philippe Charette), der mit seiner Mutter Gisèle (Josée Deschênes), Vater Romuald (Jean-Michel Anctil) und älterem Bruder Jimmy (Robert Naylor) in dem fiktionalen Dorf Irénée-les-Neiges wohnt. Der Tod löst in dem 215 Seelendorf eine tragische Reaktion aus. Die Familie wundert sich, ob es ein Unfall oder Selbstmord war, obwohl sie die Antwort kennt.

    Die Bürgermeisterin Simone Smallwood (Diane Lavallée) nutzt die Situation um eine Begräbnisansprache zu liefern, die auf die Einheit der Gemeinschaft hinpocht und auf die Unabhängigkeit von anderen. Als die Regierung eine psychologische Betreuung in das Dorf schicken will, wird das erbost abgelehnt. Doch während das Dorf noch an seinen Grundfesten festhält, hat der Tod vor allem Simons Familie stark betroffen. Jimmy weiß nicht wie er mit seiner Wut umgehen soll, Gisèle will nicht an einen Selbstmord glauben und Romaulds Depression lässt ihn ins Auto steigen und einfach davonfahren. Gleichzeitig beginnen die Einwohner seltsame Figuren überall im Dorf zu sehen. Es sind die Toten der Vergangenheit, unter anderem Simon. Warum sie auftauchen, dafür nennt Côté keinen Grund. Aber Irénée-les-Neiges ist nicht nur eine Geisterstadt, weil die Toten dort wandern, sondern auch weil die Menschen es verlassen.

    Wie gehen wir als Menschen mit unserer Vergangenheit um und wie integrieren wir sie in unser Leben. Gleichzeitig, wie inkorporieren wir eine Gegenwart die wir vielleicht nicht verstehen? Côté hat darauf keine Antwort, aber er regt sein Publikum an, darüber nachzudenken als lautstark zu philosophieren. Die Stadt ist nicht nur im Nebel ihrer eigenen Unbeweglichkeit gefangen, der Nebel legt sich auch wörtlich über die Stadt, verzerrt ihr Antlitz und macht sie zu einem außerweltlichen Ort. Côté treibt diese mysteriösen Anspielungen noch weiter, indem vier maskierte Kinder immer wieder in der Szenerie auftauchen und einen Hauch an Vorahnung mit sich bringen, dass hier gleich etwas geschehen wird.

    Basierend auf dem Debütroman eines kanadischen Schriftstellers, der tatsächlich Laurence Olivier heißt, schafft Côté einen Film, der bewusst fadenscheinig und distanziert wirkt. Dennoch ist man als Zuschauer eingeladen, eine reiche Anzahl an Interpretationen in das Gesehene hineinzuspinnen und sich mit der Gegenwart und der Vergangenheit auseinanderzusetzen.

    Côté benutzt den Pinsel nur sehr minimalistisch, um seine Erzählung auf die Leinwand zu malen, aber die schiere Breite an Bedeutungsebenen geht nicht verloren. Es bleibt dem Zuschauer überlassen, hier selbst die Grenzen zwischen den Welten für sich zu definieren.
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    (Susanne Gottlieb)
    25.08.2019
    16:44 Uhr
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