Filmkritik zu Ray & Liz

Bilder: Filmverleih Fotos: Filmverleih
  • Bewertung

    „This is the happy house!“

    Exklusiv für Uncut von der ViENNALE
    Wenn die Viennale sich kurzfristig dazu entschließt einen britischen Film mit englischen Untertiteln zu zeigen, dann ist klar dass die Reise dahin geht wo kein dezentes Oxford-English gesprochen wird. Also spätestens bei dieser Verlautbarung wäre man vorgewarnt, wenn man zufällig nicht schon vorher die inhaltliche Zusammenfassung gelesen hätte. Aber hab ich natürlich und war auch mir voller Absicht in diesem Film. Irgendwie geht von diesen Mileuschilderungen der trostlosen Thatcherjahre Großbritanniens eine Faszination aus. Das kommt wohl davon, wenn man in der Jugend reichlich The Smiths, New Model Army und The Cure gehört hat.

    Aber beim Film von Richard Billingham spielt noch ein zweites Moment mit, das sofort neugierig macht: er spricht von seiner eigenen Kindheit. Er, bildender Künstler und Fotograf, der es offenbar geschafft hat sich aus dem Hoffnungslosigkeit der Ausgesteuerten zu befreien und nicht schon in frühen Jahren sein Talent mit Drogen und Kleinkriminalität umzubringen.

    Im Publikumsgespräch erzählt Billingham, dass das lang gereifte Projekt seine Familie filmisch zu dokumentieren ursprünglich aus drei Kurzfilmen bestehen sollte. Der fertiggestellte erste dieser Filme fügt sich nun wunderbar als Rahmenhandlung um die beiden weiteren Episoden: der früh gealterte Alkoholiker Ray bewohnt eine verwahrloste Ein-Zimmer-Wohnung und verlässt das Bett nur, mehr um aus verbeulten Plastikflaschen die nötige Ration „Stron Home Brew“ zu sich zu nehmen, die ihm ein junger Mann regelmäßig vorbeibringt. Die Kamera schaut ihm dabei zu.

    Auch in den Rückblenden, die die Bilder vom sich ins Grab trinkenden Vater umrahmen, verbringen die Eltern viel Zeit im Bett, der Vater komatös schnarchend, daneben wie ein tätowierter Wal die Mutter. Dass es ringsum Tag ist spielt keine Rolle, es gibt für sie ohnehin nix zu tun und die gelangweilten Söhne wuseln sich schon selbst irgendwie durch den Tag. Streiche gehen meist gerade noch glimpflich aus, daneben läuft als „life support machine“ (so Billingham) der Fernseher. Als der jüngere Bruder sich einmal Geborgenheit bei einem Lagerfeuer mit Schulkollegen holt und sich danach durch die Finsternis nicht heimtraut, in einer Gartenhütte übernachtet und dabei fast umkommt, bemerken die Eltern sein Fernbleiben kaum. Aufgepäppelt von Freundesmüttern begegnet er am nächsten Tag zufällig seinen kinderwagenschiebenden Eltern die ihn überrascht informieren, dass die Polizei schon nach ihm gesucht habe. Im Wagen, das Familienkarnickel.

    Beeindruckend an „Ray & Liz“ ist von Beginn an die realitätsnähe der Ausstattung. Selten hat die Tapetenpatina einer vertschickten Wohnung und der Grind, den eine mehrköpfige Familie mit Kindern hinterlässt, realistischer gewirkt. Können sie sich noch an die Klomuscheltauchszene in „Trainspotting“ erinnern? Also so wirklich gegraust hats einem da ja nicht, oder? Die ganze Zeit weiß man, dass es sich um Theaterkotze handelt. Beim Dreck in Liz' Küche wird’s Ihnen grausen, garantiert. Gedreht hat man übrigens an Originalorten im „Black Country“, eine Nachbarwohnung neben jener die die Familie einst hatte, war zufällig gerade leer.

    Auch der subtile Musikeinsatz fällt auf. Gerade als die Erzählung auf die erste Katastrophe zusteuert dreht einer der Protagonisten das zeitgenössische „Happy House“ von Siouxie and the Banshees in voller Lautstärke auf. Ein perfekter Kontrapunkt zur Handlung ohne in die Kultigkeit zu verfallen, die Vorgänger wie eben „Trainspotting“ mit dem Soundtrack einst bezweckten. Nein, zum Kultfilm taugt „Ray & Liz“ absolut nicht. Dafür wirkt er viel zu echt.

    Am Anfang von Billinghams Laufbahn als Fotograf stand übrigens auch eine Fotoserie, die das Leben seiner Familie dokumentiert (gehens mal mit seinem Namen auf Bildersuche, sie werden staunen). Und bei diesen Bildern wird wie im Film klar, dass Kinder auch die abwesendsten und schlimmsten Eltern noch irgendwo lieben. Auch im Interview scheint Billingham seinen Eltern nicht zu zürnen („They thought we'd learn everything we needed at school and never encouraged or discouraged us to anything.“).

    Und spätestens wenn die Kamera am Ende des Films wieder vom am Bett sitzenden Trinker zu dem achtlos am Boden liegenden Jugendfoto der verliebten Eltern schwenkt, ist einem zum heulen und man möchte den einsamen Alten trösten, bevor sein ausgezehrter Leib endgültig aufgibt.
    Richard Billinghams Eltern sind übrigens vor ca. 10 Jahren gestorben. Er lebt und macht hoffentlich noch mehr Filme.
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    (Michael Gegenhuber)
    04.11.2018
    21:38 Uhr