Filmkritik zu Roma

Bilder: Netflix Fotos: Netflix
  • Bewertung

    Melancholischer Liebesbrief an die Kindheit

    Exklusiv für Uncut von den Filmfestspielen in Venedig
    Fünf Jahre nach seinem Oscarerfolg mit „Gravity“ zieht es den mexikanischen Regisseur Alfonso Cuaron von den Sternen zurück in sein Heimatland Mexiko. In „Roma“, seinem nach eigener Aussage bisher persönlichsten Film, begleitet er über ein Jahr lang die Angestellte Cleo (Yalizta Aparicio), die bei einer gut situierten Familie der 70er Jahre das Haus putzt und die Kinder großzieht. Die Hommage an seine eigene Nanny lässt Cuaron ohne gröbere Handlungsbögen vor sich hinsimmern. Es ist nicht sofort klar welche Geschichte er genau erzählen will. Was dabei aber durch seine meisterhafte Führung herauskommt ist ein ruhiger, melancholischer Eindruck einer vergangenen Zeit, der Alltag und die Herausforderungen jener Frauen, die denen so ähnlich sind die Cuaron aufgezogen haben.

    Cleo, eine junge Frau mesoamerikanischer Abstammung, kümmert sich gemeinsam mit ihrer Freundin Sofi (Daniela Demesa) um den Haushalt einer Arztfamilie im Mexikostadt-Stadtteil Roma. Dr. Antonio (Fernando Grediaga), seiner energischen Frau Sofía (Marina de Tavira) und den vier Kindern Toño, Paco, Pepe und Sofi (Cuaron hat sich selbst im jüngsten Sohn verewigt). Cleo lebt ein sehr annehmbares Leben in der Familie. Die Kinder lieben sie und neben den Haushaltspflichten darf sie abends der Familie auch beim gemeinsamen Fernsehen beiwohnen. Filme spielen, ähnlich wie in Cuarons Leben, eine wichtige Rolle, immer wieder wird gemeinsam vorm Fernseher gesessen und auch entscheidende dramatische Twists im und vor dem Kino ausgestanden.

    Gleichzeitig wird auch klar, dass Cleo von der Gunst der Familie abhängt. Die wenig gebildete ruhige Frau wirkt in erster Linie als Beobachter der Welt um sie herum, als sie von ihrem Freund Fermín (Jorge Antonio Guerrero) schwanger wird, bricht beinahe ihre Welt zusammen. Die Angst gefeuert zu werden bewahrheitet sich jedoch nicht. Sofia und die Familie versprechen ihr die nötige Unterstützung nachdem Fermín sie ob der Aussicht Vater zu werden sitzen lässt. Während Cleo im Laufe des Films ihre Schwangerschaft navigiert muss die Familie ihr eigenes Drama durchstehen. Antonio scheint das Familienleben nicht sonderlich zuzustehen, in langen Streitereien mit seiner Frau beklagt er den Dreck und den Zustand des Hauses. Eines Tages begibt er sich auf eine ominöse Business-Konferenz in Kanada. Erst Monate später traut sich seine verlassene Frau den Kindern die Wahrheit über seine lange Abwesenheit zu sagen.

    Doch bevor es soweit ist streift Cuaron durch die alltäglichen Herausforderungen seiner Figuren, verwebt sie immer wieder mit geschichtlichen Anekdoten und Eindrücken, ohne jedoch den Fokus seiner Handlung zu verlieren. Ein kurzes Erdbeben verortet den Film schnell einmal in Mexiko und lässt erste Vorahnungen auf 1982 heraufkommen. Und dann sind da noch die Studentenaufstände gegen die Regierung, die im Corpus-Christi-Massaker endeten und die eine alte Cuaron-Handschrift heraufbeschwören, seine durch „Children of Men“ berühmt gewordenen Tracking Shots. Alles, woran die Figuren festhalten können, scheint somit ewig im Wanken. Sofia hat die Kinder und ihre soziale Stellung, Cleo, so wird klar, hat im schlimmsten Fall jedoch niemanden. Eine Konfrontation mit dem zukünftigen Vater ihres Kindes endet in einer Morddrohung. „Egal was sie dir sagen, wir sind immer allein“, erklärt eine verbitterte Sofia eines Abends. Eine Lektion, die Cleo sich im Laufe des Films aneignet, nur um dann über sie hinauswachsen zu müssen.

    Sinnbildlich fasst sich der Film in dem Ford Galaxy der Familie zusammen. Das Fortbewegungsmittel ist die Quelle vielen Unmuts. Nie passt er in die Garage, immer wieder werden die Spiegel zerstört. Dass Sofia eines Tages das alte Gefährt, das von ihrem Mann so geliebt wurde, gegen ein kleineres neues Auto ausgetauscht wird, steht sinnbildlich für den Wandel der Figuren, den politischen Wandel mit all seinem Horror und den Wandel der Zeit. Ein Sinnbild der Gesellschaft, die sich trotz aller ihrer Rückschläge vorwärtsbewegt.
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    (Susanne Gottlieb)
    10.09.2018
    18:29 Uhr
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