Filmkritik zu Sommer 1993

Bilder: Filmverleih Fotos: Filmverleih
  • Bewertung

    Warum nur weinst du nicht?

    Exklusiv für Uncut von der ViENNALE
    Barcelona. Feuerwerk. Kinder spielen auf der Straße Ochs am Berg. Der Junge, der der Ochse ist, versucht die Kinder, die stillstehen, dazu zu bringen, sich doch noch zu bewegen. „Warum weinst du nicht?“ fragt er Frida (Laia Artigas). Da bewegt sie sich und ist ausgeschieden.

    In einer Wohnung wird eingepackt. Fridas Großmutter zeigt ihr, wie sie das Vater unser beten muss, jeden Abend vor dem Schlafengehen und dabei an ihre Mutter denken. Ihr Onkel Esteve (David Verdaguer) spielt Gitarre und singt. Es wird getanzt. Letzte Szenen vor einem Aufbruch. Dann fährt das Auto an und Frida sieht ihre Freunde und die Stadt, in der sie aufgewachsen ist, hinter sich kleiner werden. Es beginnt für sie ein neues Leben, am Land, mit neuer Familie, der Familie ihres Onkels, einer neuen Mutter Marga (Bruna Cusí) und einer kleinen Schwester Ana (Paula Robles). Frida beobachtet. Sie hört zu. Sie belauscht. Sie hält ihre Regungen in sich verschlossen. Sie versteckt sich. Sie spielt. Sie lernt. Sie ist tollpatschig, unsicher. Sie versucht, sich zu gewöhnen, sich anzupassen. Sie ist stur. Sie ist grausam. Sie ist verletzlich. Sie will geliebt werden. Sie ist ein Kind, eine kleine Erwachsene.

    Oft zeigt uns die Regisseurin Carla Simón das Gesicht Fridas in Großaufnahme, von wilden Locken umrahmt und mit dunkelbraunen Augen, die so tief sind, etwas suchen, etwas verbergen. Dazu Szenen, in denen die Erwachsenen so reden, als wäre sie nicht anwesend, würde nicht verstehen. Sie versteht auch nicht, versteht nur halb.

    Im Film, der auf der diesjährigen Berlinale den Preis für den besten Erstlingsfilm gewonnen hat, spürt man die wahre Geschichte hinter der Geschichte, das Autobiografische. Die Dialoge, die Szenen treffen den Zuseher. Wenn Frida eifersüchtig auf Ana ist, trotzig mit Marga, steigen Bilder aus der eigenen Kindheit im Kopf herauf, die Starre dessen, der weggehen muss, der verlassen wird, die Angst vor dem erneuten Alleinsein. Wenn Frida der Marienstatue, die zwischen den Pflanzen in einem Winkel versteckt ist, Geschenke macht, damit ihre Mutter sie sich holen kann, spürt man ihren kindlichen Glauben an das Wunder und ihre Enttäuschung, als sie entdeckt, dass es der Wind war, der den Schal weggetragen hat.

    Laia Artigas, Bruna Cusí, Paula Robles und David Verdaguer spielen großartig. Die Verstrickungen, Risse, Geheimnisse, Eifersüchte, Ängste, die Gemeinsamkeit und die Zuneigung, die sich in dieser kleinen Familie auftun und entwickeln, während die Rollen neu verhandelt werden, vermitteln sie so, dass es guttut und wehtut zugleich.

    Mir ist besonders die Szene im Kopf geblieben, in der Frida, geschminkt wie eine Puppe, mit Ana Mutter und Kind spielt, eine Mutter, die im Bett liegt und nicht mit ihr spielen kann, weil ihr alles wehtut, und ein Kind, das ihr aus der Luft die gewünschte Speise macht. Eine kleine alltägliche Szene, in der doch soviel steckt.

    Carla Simón und ihrem Team ist ein großartiger Film gelungen, kein Wunder, dass Spanien „Estiu 1993“ für die nächste Oscar-Verleihung ins Rennen schickt.
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    (Irene Hetzenauer)
    14.11.2017
    21:53 Uhr