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  • Bewertung

    Die Kinder der Stadt

    Exklusiv für Uncut von der ViENNALE
    La Ciotat. Schauplatz eines der ersten Filme der Filmgeschichte, der „Ankunft eines Zuges auf dem Bahnhof in La Ciotat“ (Auguste und Louis Lumière, 1895). Heimat des ältesten Kinos der Welt, L’Eden (erbaut 1889). In erster Linie jedoch eine Kleinstadt unweit der Metropole Marseille und wirtschaftlich relevant vor allem aufgrund ihres Hafens und der Industrie, die mittlerweile beide stagnieren. Es gibt viele solche Orte – mit einer prachtvollen Vergangenheit, im Schatten großer Brüder und mit einer eher ungewissen Zukunft. Da ist es nur passend, dass der Name von La Ciotat aus dem Provenzalischen hergeleitet einfach nur das bedeutet: „die Stadt“.

    In dieser gewissermaßen herkömmlichen Stadt spielt sich auch die ziemlich universelle Geschichte des aktuellen Spielfilms von Laurent Cantet ab. Ähnlich wie bei seinem mit der Goldenen Palme von Cannes ausgezeichneten Film „Entre les murs“ (2008) ist die Grundlage des Geschehens wieder eine Klasse, die Verhältnisse der Schüler sowohl untereinander wie auch gegenüber dem Lehrer und die Tendenzen, die dadurch in den Vordergrund gebracht werden. In diesem Fall handelt es sich um eine Schreibwerkstatt, in der sich eine Gruppe mehr oder weniger motivierter junger Arbeitsloser – die meisten davon mit Migrationshintergrund – unter der Leitung der Schriftstellerin Olivia Dejazet (Marina Foïs) der Entwicklung einer Geschichte widmen. Schnell werden Klischees bedient. Morde, Entführungen, Erpressungen, Amokläufe und Gedächtnisverlust werden in den Konzepten der Schüler mit ethnischen Zuschreibungen gepaart. Die Ideen lösen heftige Diskussionen in der Gruppe aus und offenbaren die Haltung der Einzelnen gegenüber Politik, Ideologie, Ethnie, Wirtschaft und Kunst. Die meisten Streitigkeiten haben dabei einen Auslöser, Antoine (Matthieu Lucci), den Sympathisanten eines lokalen rechtsradikalen Politikers. Auch Antoine ist ein Klischee. Ein Vertreter der weißen Mittelschicht, der die Ausweglosigkeit seiner Stadt beklagt, die Schuld dafür den Anderen in die Schuhe schiebt, in Gewaltphantasien medial und real versinkt, Autorität verachtet, seine Probleme nicht zugeben will und letztendlich doch nur nach Liebe schreit. „L’Atelier“ ist seine Coming of Age Geschichte: von einer sich an der Schnittstelle diverser Einflüsse befindlichen Person bis zu der Umsetzung seines Willens in Form einer Entscheidung, die sein Leben endgültig prägen wird.

    Cantet stellt alle Weichen seines Gerüsts für ein bestimmtes Genre auf und geht dann entgegen der Erwartungen der Zuschauer in eine gänzlich andere Richtung. Der Hauptkonflikt spielt sich dabei zwischen Olivia und Antoine ab, damit also zwischen zwei Konzepten von Gewalt: der eine sieht darin die Lösung für kreative Probleme, der andere will damit auch individuelle und gesellschaftliche Mißstände lösen. Ihre Dialoge springen von einem hierarschisch klaren Verhältnis, über eine gewisse Faszination für das Gegenüber hin zum Konflikt ebenbürtiger Kontrahenten. Somit gehören sie neben der Kameraarbeit von Pierre Milon zu den Glanzpunkten dieses Films. Abgesehen davon bleibt der Film jedoch trotz der routinierten Regie in seinen Bemühungen zu oberflächlich.
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    (Miha Veingerl)
    05.11.2017
    22:50 Uhr
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