Filmkritik zu Seeing Voices

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  • Bewertung

    Berührende Doku über eine Sprache mit Schattendasein

    Exklusiv für Uncut von der Diagonale
    Zum Thema der Gehörlosigkeit kam Regisseur Dariusz Kowalski eher zufällig. Er habe einen Lippenleser für eine Filmproduktion gesucht und sei an die Gehörlosencommunity verwiesen worden, erklärte er beim Publikumsgespräch. Ein Jahr habe er sich mit dem Erlernen der Gebärdensprache auf den Film vorbereitet. Mit seinem Film öffnet er das Tor in eine Gesellschaft, die oft unbeachtet parallel neben jener der Hörenden existiert.

    Da sind einerseits die Jüngsten, wie der Neugeborene Emil Hager, dessen ebenfalls taube Eltern es ablehnen, ihm ein Cochlea-Implantat einpflanzen zu lassen. Sie wollen, dass er erst eine eigene Identität und Sprache entwickelt. Seine Mutter Barbara ist Expertin für Schwerhörigen- und Gehörlosenidentitäten und weiß, wie wichtig es ist nicht zwischen der Welt der Hörenden und der Nicht-Hörenden verloren zu gehen.

    Ayse ist eine junge Frau, die an ihrem Selbstbewusstsein arbeitet um sich beruflich zu verwirklichen. Nach Schlägen durch Lehrer in ihrer Schulzeit hat sie Angst davor einen Job oder eine Ausbildung anzufangen, schämt sich dafür die Vorgesetzten vielleicht nicht zu verstehen. In einer Jugendgruppe lernt sie langsam, sich selbst zu akzeptieren und dies auch von den Hörenden einzufordern. „Ihr habt keine richtigen Ambitionen“, erklärt einer ihrer Betreuer, „ihr müsst nicht als Reinigungskraft arbeiten. Ihr könnt richtige Jobs ausüben.“ Taub sein heiße nicht dumm zu sein.

    Als dritte Gruppe wird die ältere Generation porträtiert. Helene ist eine österreichische Parlamentarierin. Bei Veranstaltungen sowie bei Arbeitsgruppen weist sie auf die problematische Lage der Gehörlosen in der Gesellschaft hin. Menschen, die sich selbst nichts zutrauen und nicht einmal die Gebärdensprache richtig beherrschen. CODA-Kinder, auf denen zu viel Druck lastet da es nicht genug Dolmetscher gibt. Lehrpläne für Gehörlosen-Schulen, die nicht den Standards regulärer Schulen entsprechen.

    Regisseur Kowalski verzichtet gemäß der Thematik weitgehend auf gesprochene Sprache. Seine Protagonisten werden über Inserts oder Dialoge eingeführt, jeder gesprochene Satz der Hörenden ist untertitelt. Sogar die Geräusche im Hintergrund, das Zwitschern der Vögel, das Surren der Nähmaschine, werden am unteren Bildrand verschriftlicht. Es ist ein Film der von beiden Kulturen, den Hörenden und den Nicht-Hörenden, verstanden werden kann. Es gibt kein akustisches Voice-Over und keine Erzählstimme, die Gebärden nehmen den Raum im Film ein, erheben sich zur Sprache und zum erzählerischen Stil des Films. Das erweitert die Wirkung der visuellen Eindrücke und die Faszination für die Gebärdensprache, die eine Symbiose von Gestik, Mimik und oft fast tanzenden Körperbewegungen ist.

    Das Nicht-Kommentieren lässt dem Film auch den Raum, seine eigene Perspektive zu finden. Wer sich mit der Gehörlosenwelt bereits befasst hat, kennt den Stolz ihrer Mitglieder auf ihre Identität und auf ihre Sprache. Es ist kein moralisierender Zeigefinger der hochschellt, wenn die Ärzte zu einem Cochlea-Implantat raten. Vielmehr bekommen die Eltern die Möglichkeit, ihre Sicht auf die Dinge darzustellen, zu erklären, warum es wichtig ist diese Identität zu entwickeln. Die Mediziner demaskieren sich somit selbst, der gute Rat ist unterm Strich nach wie vor eine Aufforderung, den Menschen „ganz zu machen“.

    Helene wird bei einem Interviewtermin ebenfalls mit Vorurteilen konfrontiert. Ob sie sich gewünscht habe, dass ihre hörende Tochter als solche geboren wurde oder ob sie lieber ein taubes Kind bekommen hätte. Eine absurde Frage, die Helene bravourös meistert. Sie hätte sich gar nichts gewünscht, sie hätte ihr Kind genau gleich aufgezogen. Im Endeffekt geht es den Protagonisten nicht darum eine Kultur besser als die andere darzustellen. Ihr Anliegen ist es, im Alltag nicht benachteiligt zu werden.

    Am besten funktioniert der Film jedoch, wenn er die Interaktion dieser Kulturen zeigt. Eine gehörlose Lehrerin feiert Geburtstag und fühlt die Stimmbänder der Sängerin um ihr „zuzuhören“. Ayse bringt den anderen Lehrlingen Gebärden bei. Die hörende Caroline Hager wechselt zwischen den Sprachen, während sie mit ihrem Vater Memory spielt Es ist dieses vorsichtige Antasten aneinander, das Miteinander aus Deutsch, Gebärdensprache und simplen Gestikulieren, was den Film besonders berührend macht. Die Kommunikationsprobleme schaffen sogar ein komödiantisches Ventil für Beteiligte und Zuschauer. Niemand ist peinlich berührt oder enttäuscht. Das Nachfragen und falsche Interpretieren sorgt in dem entspannten Umfeld immer wieder für Lacher unter den Kommunizierenden.

    Dieses Plädoyer für ein Miteinander, für das Verstehen und Respektieren jener, die anders sind als man selbst, ist die stärkste Botschaft des Films. Es ist das, was uns als Gesellschaft näher zusammenrücken lässt.
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    (Susanne Gottlieb)
    30.03.2017
    18:11 Uhr
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Regie: Dariusz Kowalski
AT-Start: 21.04.2017