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  • Bewertung

    Autobiographischer Leidensweg ohne Mitleid

    Exklusiv für Uncut von der ViENNALE
    Zehn Jahre kämpfte der jüdisch-rumänische Schriftsteller M. Blecher in den 20er und 30er Jahren gegen seine Knochentuberkulose. Zehn Jahre, in denen er im Oberkörpergips ans Bett gefesselt war, seine Gelenke versteiften und seine Verfassung immer schlechter wurde. Im Jahr 1938 verlor er den Kampf und starb. Trotz seiner Krankheit brachte er es in dieser Zeit auf ein kleines aber bedeutendes literarisches Werk. Der Film „Inimi Cicatrizate“ beruht auf seinem autobiographisch geprägten Roman „Vernarbte Herzen“, der Geschichte eines an Knochentuberkulose erkrankten Juden im Rumänien der 30er Jahre.

    Blecher zieht sich wie ein Meta-Schatten durch die Handlung des Films. Schon in den Credits zu Beginn werden Fotos und Zeichnungen von ihm gezeigt, bevor der Film in die Handlung rund um den 20-jährigen Emanuel und seinen Aufenthalt in einem Sanatorium am Schwarzen Meer übergeht. Immer wieder wird die Geschichte durch Schwarzblenden unterbrochen, in denen der jeweilige Abschnitt des Films mit Auszügen aus Blechers Buch kommentiert wird. Diese fügen sich auf multiple Art und Weise in die Handlung ein. Einerseits fassen sie das Geschehene auf einer subjektiven Erzählerperspektive zusammen. Andererseits bedienen sie auch das dramaturgische Element des „Foreshadowing“, wodurch der Film Antizipation kreiert.

    Regisseur Radu Jude erzählt seine Geschichte im 4:3-Format in langen Schnitten und weiten Einstellungen. Ein Großteil seiner Charaktere ist aufgrund der Tuberkulose bettlägerig. Dadurch entsteht eine reiche Abwechslung an Szenen. Einerseits die Dynamik, in der mobile Patienten quer durch das Bild tanzen oder die Schwestern im flotten Takt durch die Gänge huschen um ihre Aufgaben zu erledigen. Andererseits jene Momente, in denen die Kranken bewegungslos in ihren Betten liegen, und ihre Gedanken und Gespräche die einzige Erquickung sind die sie noch haben. Emanuel und seine Freunde kämpfen um ihren Geist, die Teilnahme am sozialen Leben, während ihre Körper immer weiter der Krankheit zum Opfer fallen. Gemeinsam wird philosophiert und über Literatur und Politik geredet. Die Stärke dieser Szenen ist auch zugleich ihre Schwäche. Der durchschnittliche Zuschauer wird nicht allzu bewandert sein in den Werken zahlreicher Philosophen und Schriftsteller, deren Namen im Minutentakt fallen und deren Theorien viel an Dialog gewidmet wird. Ebenso wird der Antisemitismus in Deutschland und in Rumänien angeschnitten. Die Patienten, die sich zu dieser Ideologie bekennen, bekommen aber ihr Kontra, über Hitler macht man sich lustig.

    Der Film verfolgt keine eindeutig lineare Handlung, er ist eine Momentaufnahme des Lebens im Sanatorium. Zusammengehalten wird er von Emanuels geistiger Entwicklung. Zu Beginn ist es sein Optimismus, die Anstalt bald wieder verlassen zu können. Er liest, unterhält seine Leidensgenossen und fängt eine Beziehung mit der ehemaligen Patientin Solange an. Erst als sich sein Zustand verschlechtert, wird der Film zunehmend ernster und nachdenklicher, Emanuel in seinen Handlungen lethargischer. Es ist eine skurrile und faszinierende Welt die Blecher beschreibt, und in der Emanuel langsam aber sicher dahinsiecht. Dieser Ort sei eine Droge, meint sein Freund Ernest, kurz bevor entlassen wird. Solange, die längst geheilt ist, zieht es Tag um Tag wieder zurück zu den Patienten. Während die Welt sich draußen weiterdreht, ist der Alltag im Sanatorium vom Körper eingipsen, Amputationen, Abszesse aufschneiden und krankhaft optimistischen Ärzten geprägt. Das letzte Aufbäumen gegen den Tod ist gespickt mit Melancholie, aber gänzlich mitleidslos. Irgendwann setze eine Gleichgültigkeit ein, sagt Emanuels Leidensgenossin Isa. Er kann das nicht ganz nachvollziehen. Aber irgendwie ist er dann doch wissend seinem Schicksal ergeben.
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    (Susanne Gottlieb)
    30.10.2016
    21:04 Uhr
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