Filmkritik zu Esiod 2015

Bilder: Filmverleih Fotos: Filmverleih
  • Bewertung

    Tänzerische Gesellschaftskritik auf doppelten Ebenen

    Exklusiv für Uncut von der Berlinale 2016
    Zahlen, Linien, futuristische Grafiken bilden den Einstieg – typisch Science-Fiction könnte man denken. Doch diese Zukunftsfantasie ist keine im konventionellen Sinne. Viel mehr gleichzeitig eine Reflexion jetziger Zeit, und dadurch eine Erkenntnis, in welche Richtung unsere Gesellschaft sich entwickeln kann. Und das erschreckend realitätsnah.

    Das System in seiner Idee funktioniert folgendermaßen: Die Erinnerungen aller Menschen werden zu Zahlungsmitteln, die in der Bank gehortet werden. Diese macht Profite damit, genau wie auch Facebook heutzutage mit unseren Daten Geld verdient. Die Bank hält ein Monopol der Erinnerungen. Zahlen und bizarre Bewegungscodes sollten der Kundin Esiod (Stephanie Cumming) Eintritt ins System verschaffen. „I don’t remember you“, beschwert sich da eine Computerstimme wieder und wieder, omnipräsent aus dem Nichts sprechend.

    Die Stadt ist zu einem Hochsicherheitsgelände geworden, in dem Menschen durch ihre individuelle Gebärdung erkannt und in höhere Zonen, die anscheinend für Gesellschaftsschichten stehen durchgelassen werden. Esiod war zu lange fort, daher fällt es dem System angeblich schwer, sie wiederzuerkennen. Der Bankmanager Avatar (Sven Dolinski) übt mit kühler Unausstehlichkeit seine Macht aus und führt sie durch ein Ritual der Erinnerungen zur Identifikation.

    Der Drehort des Films ist der halb gebaute „Erste Campus“ der österreichischen Sparkasse Erste Bank in Wien, eine Baustelle, deren Gebäudeteile wie Überreste eines postapokalyptisch menschenverlassenen Areals wirken. Aus dem Setting entwickelte sich maßgeblich das Drehbuch, erzählte Regisseur Clemens von Wedemeyer im Publikumsgespräch. Eine Ausschreibung des „Art in Architecture“-Projekts, mit der ungewöhnlichen Kombination quasi ein neues Genre begründet, brachte ihn erst dazu, sich überhaupt mit dem Ort Baustelle zu befassen. Genauer gesagt, mit dem Bau des „Erste Campus“ in Wien, deren Räumlichkeiten die Inspiration boten.

    Überblendungen, in denen zwei Ebenen der Wahrheit gleichzeitig sichtbar werden, geben dem ganzen einen fantastischen, ambivalenten Eindruck, und sind nur ein Beispiel der beachtlichen, durchdachten Bildgestaltung. So fließt das ganze immer weiter in die virtuelle Computerwelt, die anfangs schon angedeutet wurde, in der sich die heiß begehrten Daten befinden.

    In meisterhaftem Sounddesign, auf Basis von sorgfältiger Tonaufnahme, erklingen die feinsten Geräusche: Quietschendes Leder hallt durch die Foyers, eine beklommene Atmosphäre unterlegt das stetige Geräusch der Schritte, die Esiod immer weiter ins Innere des bürokratischen Systems tragen. Sie gibt nicht auf, wie eine Kämpferin, in ihrer wehrhaften Leder-Rüstung. Da die Hauptdarstellerin Stephanie Cumming eigentlich eine Tänzerin ist, wird diese Ausdrucksform als starkes Element eingesetzt: Bewegung und Tanz bilden die Sprache dieses Films.

    Es ist beeindruckend, wie klar der Regisseur die allgegenwärtigen Machtverhältnisse in diesem experimentellen Film darstellt.
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    (Luzia Johow)
    23.03.2016
    12:13 Uhr