Filmkritik zu The Chosen Ones

Bilder: Filmverleih Fotos: Filmverleih
  • Bewertung

    Radikal, schockierend, gut

    Exklusiv für Uncut aus Cannes 2015
    Die 14-jährige leicht schüchterne Sofia muss viele Erfahrungen erst machen – vor allem in Hinblick auf ihre Sexualität. Für den etwas älteren Ulises ist es nicht schwer ihr Herz zu gewinnen. Sie sind verliebt, Ulises lädt Sofia zu einem Essen mit seiner Familie ein. Sie wirken nett, der Vater feiert gerade Geburtstag. Die Story wirkt unschuldig, kitschig. Noch ist unklar in welche Richtung sich die Teenie-Liebesgeschichte entwickeln wird. Umso heftiger ist der Aufprall: „The Chosen Ones“ beginnt mit einem versuchten „ersten Mal“, scheitert jedoch an der Nervosität Sofias. Sie will noch kurz warten. Wenige Tage ist es soweit. Ihr „Erster“ ist jedoch nicht Ulises, sondern ein alter Mann. Sofia wurde in die Prostitution gezwungen. Man droht ihr mit der Ermordung ihrer Familie, wenn sie zu fliehen versucht. Von jetzt an muss sie sich Andrea nennen. Ihre große Liebe Ulises spielte dabei keine unwesentliche Rolle. Als Sohn des Oberzuhälters wird er von seiner Familie gezwungen junge Mädchen aufzureißen und sie in die Prostitution zu zwingen. Nachwuchs-Pimp Ulises hadert, er hat sich tatsächlich in Sofia verliebt. Die Art und Weise, wie die beiden Jungdarsteller ihre Emotionen aus- und unterdrücken ist bemerkenswert. Geschickt werden die Erzählperspektiven gewechselt. Weiblicher und männlicher Blick auf das Geschehen erweitern das Blickfeld des Kinopublikums.

    Als Zuschauer fühlt man sich ebenso machtlos, wie Protagonistin und Protagonist. Ulises könnte noch etwas an der Situation ändern, versucht es auch. Sofia kann es nicht. Das Geld, das Ulises durch Sofias „Arbeit“ verdient, ist verlockend. Die klischeehaft gezeichneten Charaktere von Vater und Bruder verdeutlichen, in welche Richtung sich Ulises entwickeln soll. Brutal wird er vom Bruder zusammengeschlagen, als er sich gegen die Familie aufzulehnen versucht, die auch Kinder der Prostituierten großzieht. Wenn diese gut arbeiten, dürfen sie ihre Sprösslinge einmal im Monat sehen. Es ist ein gnadenloser Teufelskreis. Die Kinder werden wohl wieder dazu gezwungen werden, Mädchen aufzureissen und zu prostituieren. Es ist ein breites Netzwerk. Die Nachbarschaft weiß, dass etwas nicht in Ordnung ist. Es wird weggesehen. Ein düster-beängstigendes Bild der mexikanischen Gesellschaft entsteht. Der Film ist eine Aufforderung nicht wegzusehen.

    „The Chosen Ones“ ist radikal, er schockiert, tut weh. Psychologisch ist der Film fordernd, der Realismus fesselt ebenso wie die Geschichte. Sex und Gewalt finden abseits der Leinwand statt. Der filmische Kunstgriff macht das Geschehen ertragbarer: Sofia erlebt ihr erstes Mal vor einer weißen Leinwand. Abwechselnd stehen sie und ihr Freier davor. Stöhnen, Schreie, das Geräusch aufeinanderklatschender Körper ertönt aus dem Off. Es folgt Wiederholung um Wiederholung. Die Gesichter der Freier ändern sich ebenso wie Sofias Wesen. Immer mehr zieht sie sich in sich zurück, sie droht zu zerbrechen. Kurz blitzt Hoffnung auf. Doch wo Kartelle und Mafia das Sagen haben, drohte diese Utopie zu bleiben.
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    (Patrick Zwerger)
    27.05.2015
    14:50 Uhr
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