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    La Bête Humaine

    Exklusiv für Uncut von der Berlinale 2015
    „Katastrophen sind rare Momente, in denen man den Sinn des Lebens entdecken kann“, sagt der Regisseur, politische Aktivist und ehemalige Kulturminister Haitis Raoul Peck beim Publikumsgespräch nach der Premiere seines Films auf der Berlinale 2015. Und nach diesem Konzept, gestaltete er auch „Murder in Pacot“.

    Ausgangspunkt ist das schwere Erdbeben in Haiti 2010. Die Handlung der Geschichte setzt unmittelbar danach ein. Die Frau und der Mann – Namen haben die Hauptfiguren keine – gehörten einst zur bürgerlichen Oberschicht Haitis. Ihr Leben verbrachten sie in einer für haitianische Verhältnisse luxuriösen Villa - umgeben von schweren Eisentoren. Denn vom Pöbel wollte man sich räumlich stets abgrenzen. Und auch die Kamera verlässt (bis auf eine Ausnahme) niemals das durch das Erdbeben in Mitleidenschaft gezogene Anwesen, das nun abgerissen werden soll. Zumindest, wenn es nach den Behörden geht, die beinhart jede beschädigte Mauer mit blutroter Farbe markieren. Da sich aber Menschlichkeit und Nächstenliebe vor allem in Katastrophensituationen zeigen, bekommt der Mann noch eine Chance sein Haus zu reparieren. Doch von nun an macht sich Raoul Peck, der international mit dem Film „Lumumba“ bekannt wurde, ans Werk, dieses medial verwischte Bild der Menschlichkeit zu entmythifizieren und ins Gegenteil zu verkehren. Denn Katastrophen sind nunmehr kein Ausgangspunkt für Menschlichkeit. Vielmehr bringen sie in diesem Kammerspiel den Überlebenstrieb ans Tageslicht, sie verwandeln Menschen in Tiere, zu hilflosen Individuen, gefangen in einer grausamen Natur. Ehrfürchtig gleitet die Kamera detailfixiert über Steine, Blätter und Geckos. Die Elemente Feuer, Wasser, Luft und vor allem Erde werden symbolisch in den Mittelpunkt gerückt. Immer wieder wird so die allgegenwärtige Gewalt in Erinnerung gerufen, die jeden Moment willkürlich zuschlagen und Existenzen zerstören kann. Die naturelle Perversion zeigt sich in schlagartigen Nachbeben, die kleine Reparaturen zur Sisyphosarbeit werden lassen.

    Hoffnung bring die aus einfachen Verhältnissen stammende 17-jährige Andrémise, die sich zusammen mit ihrem weißen Liebhaber Alex in der halb kaputten Villa einmietet. Die einstigen Besitzer leben in der einstigen Dienstbotenbaracke im Garten. Sie sind auf das Geld des weißen Mannes angewiesen. Dieser hilft gerne – immerhin ist der NGO-Mitarbeiter ja deshalb nach Haiti gekommen. Neun Tage wird es ab seiner Ankunft dauern, bis die Situation eskaliert. Zu groß sind die Probleme des Landes. Die Hilfe der Weißen ist eines davon. Peck stellt sie als Selbstbefriedigung da. Fotos dienen Alex als Trophäen, damit er zuhause zeigen kann, wie toll er nicht geholfen hat. Doch Hilfsgelder verebben in Nutzlosigkeit. Eine Straße wird geputzt, um das Stadtbild zu retten, während die Menschen um Wasser kämpfen.

    Zurück zu Andrémise: Ihre Unschuld, Jugend und erotische Offenheit verzückt die einstige Herrin des Hauses, die selbst nicht mehr lieben kann. Genauer gesagt seit jenem Moment, als ihr Sohn von den Trümmern verschluckt wurde. Er liegt noch immer dort. Der Leichengeruch wird gekonnt verdrängt – wie auch der Rest der Vergangenheit. Andrémise hingegen steht für Zukunft und Frische. Frische, die auch dem Hausherren nicht verborgen bleibt. Auch in ihm haben sich die Probleme einer ganzen Nation angestaut. Und so sind in dieser Geschichte nicht nur Natur und Westen grausam. Auch die Haitianer sind nicht besser. Er tritt den Beweis dafür an – auch, wenn sein irrationales Verhalten wie vieles nur in der Logik des Films Sinn macht.

    „Murder in Pacot“ ist ein sehr dichtes Werk, das eine große Anzahl an Fragestellungen abhandelt. Auf engstem Raum werden mit sehr viel Feingefühl gegenwertige und vergangene Probleme Haitis aufgearbeitet. Doch Lösung gibt es keine. Die menschliche Natur ist das frustrierende Element dieser Erzählung.
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    13.02.2015
    09:35 Uhr