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    Zelebration der Entschleunigung

    Exklusiv für Uncut von der Berlinale 2014
    Die Passanten beobachten ihn, gehen an ihm vorbei, nehmen ihn manchmal gar nicht wahr. In seiner Langsamkeit stört er die gewohnte Geschwindigkeit Marseilles: Ein buddhistischer Mönch, gekleidet in einem roten Tuch, bahnt sich in extremer Langsamkeit seinen Weg durch die französische Großstadt. Seine Augen hält er dabei geschlossen, für jeden Schritt vorwärts nimmt er sich mehr als eine halbe Minute Zeit. „Zeitlupe“ wäre der falsche Begriff dafür – viel mehr handelt es sich um eine bewusst wahrgenommene Bewegung. Vorwärts ohne Halt und Hetz. Der Mönch bewegt sich auf einer Strandpromenade, in den Menschenmassen eines Jahrmarkts und eines Hauptplatzes, beim Stiegenab- bzw. -aufgang zu einer U-Bahn, vor einem hoch frequentierten Café. Er stört, er irritiert, er fasziniert die Passanten, Rad-, Moped- und Autofahrer. Nur ein Mann schließt sich seinem Entschleunigungs-Protest an und ahmt die wenigen Bewegungen des Mönches, wenige Schritte hinter ihm, ganz bewusst nach. 
In jedem der nur zehn Bilder erinnert der Film an den philosophischen Mainstream des Byung-Chul Han und seine Erläuterungen über die Müdigkeitsgesellschaft. Entschleunigung ist das Motto der Stunde. Sogar in der Wirtschaft wird sie mittlerweile geprädigt, doch auch nur als Prevention mystifizierter Krankheiten der westlichen Zivilisation – mit dem Ziel, doch noch produktiver (weil weniger krank) zu werden. In Tsai Ming-liangs Film geht es nicht um den Mönch, sondern die Menschen, denen er auf seiner entschleunigten Reise durch die Stadt auffällt – oder eben nicht auffällt. Der Kinozuschauer wird dabei zum Flaneur im besten Sinne: Sein Auge flaniert über die Leinwand, beobachtet die Beobachtenden, achtet auf die Reaktionen der Passanten – und verliert sogar in zwei Bildern den rot gekleideten Mönch. Der namenlose Mönch wird dabei zu dem Waldo Marseilles.
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    10.02.2014
    22:04 Uhr