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    Tanzen und Warten

    Exklusiv für Uncut von der Berlinale 2023
    Der gleichnamigen Kurzgeschichte von Henry James entnimmt der Wiener Regisseur Patric Chiha („Brüder der Nacht“, „Wenn es Liebe wäre“) , der seit vielen Jahren in Paris lebt, die Grundstruktur seines Films „Das Tier im Dschungel“. Als eine von drei österreichischen (Ko-)Produktionen feiert der Film im diesjährigen Berlinale-Panorama seine Weltpremiere, anschließend wird „Das Tier im Dschungel“ als Eröffnungsfilm der Diagonale nach Österreich kommen.

    Alles beginnt in einem namenlosen französischen Nachtclub im Jahr 1979. Die Kunstgeschichte-Studentin May (Anaïs Demoustier) hat es an der strengen wie mysteriösen Türsteherin (Béatrice Dalle) vorbei geschafft und tanzt mit ihren Freund*innen, als ihr Blick plötzlich an John (Tom Mercier) klebenbleibt, der die Tanzenden vom Balkon aus beobachtet. Sie spricht ihn an, scheint ihn von einer flüchtigen Begegnung vor einigen Jahren wiederzuerkennen, irgendwann offenbart er ihr das Geheimnis, das er ihr damals noch nicht verraten hatte: Er wartet auf ein unbekanntes, lebensveränderndes Ereignis. Wenn es eintritt, wird nichts mehr sein wie zuvor, und alles, was bis dahin passiert, ist nebensächlich. May ist von dem Geheimnis angezogen und so beschließen sie, von nun an gemeinsam zu warten, jeden Samstag in diesem Nachtclub, viele Jahre lang.

    Schon die Radikalität des Entschlusses, auf den einen Moment zu warten, und das Rätsel, das ihn umgibt, sind faszinierend. Während die Jahre vergehen, die Musik und der Kleidungsstil der Tanzenden sich verändern, Freund*innen Kinder kriegen und sterben, stehen May und John wartend auf dem Balkon und beobachten, wie die Geschichte und die Tänzer*innen an ihnen vorbeiziehen. Wie May rätselt man zunächst, worum es sich bei dem Ereignis handeln könnte. In der Außenwelt geschieht vieles: François Mitterrand wird französischer Präsident, Klaus Nomi stirbt, eine Mondfinsternis ist zu beobachten, die Mauer fällt, die Terroranschläge des 11. September werden verübt. Aber solche Weltereignisse sind es nicht, auf die John wartet. Es muss sich hier, in diesem Club ereignen, den der Film nur selten verlässt. Könnte es vielleicht die Liebe sein, fragt May, aber das wäre zu banal. Und was passiert eigentlich, wenn das Ereignis wirklich eintritt? Das Warten wird schließlich zum eigentlichen Ziel ihrer Unternehmung. Ob das Ereignis kommt und in welcher Form, spielt vielleicht gar keine so große Rolle.

    Die gleiche Anziehungskraft, die der Club und John auf May ausüben, überträgt „Das Tier im Dschungel“ mit einer unglaublichen visuellen Verspieltheit auf seine Zuschauer*innen. Vampirähnlich scheinen die Figuren nur in diesem Club zu existieren, der in seinen überästhetisierten Szenen ebenfalls völlig aus der Welt entrückt zu sein scheint. Tanzszenen, laute Musik, expressionistische Nahaufnahmen und beeindruckende Farb- und Lichtstimmungen dominieren den Film. Diese visuelle Klarheit gibt den existentiellen Fragen, die die Figurenanordnung eröffnet, den perfekten Raum. Der Kontrast zwischen dem exzessiven Hedonismus der Tanzenden und den beobachtenden Blicken der Wartenden schafft eine Traumwelt, die in ihrer Überhöhung die Tragik des menschlichen Daseins ausstellt.

    Und zuletzt kann man kaum über „Das Tier im Dschungel“ reden, ohne ins Schwärmen zu geraten ob der großartigen Schauspieler*innen, die diese Welt bevölkern. Anaïs Demoustier und Tom Mercier spielen die Anziehungskraft, die zwischen ihren ungleichen und doch auf mystische Weise füreinander bestimmten Figuren herrscht, herausragend. Und dann ist da noch Béatrice Dalle, die als Türsteherin eine von mehreren schrulligen Figuren ist, die den Club bevölkern, und die dem Film außerdem als Erzählerin seine surreale Faszination verleiht.

    „Das Tier im Dschungel“ ist ein besonderer Film, der eine ähnliche Anziehungskraft hat wie Tom Mercier, wenn er mit brauner Cordhose und rotem Wollpullover zum ersten Mal auf dem Balkon des Clubs steht.
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    18.02.2023
    16:26 Uhr