Forum zu Tótem

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    Der Trost von Tieren

    Geburt und Tod – die beiden Eckpfeiler unserer Existenz, die unverrückbar Anfang und Ende unseres Zeitstrahls markieren, dazwischen kann sich jede Menge abspielen, von Glückseligkeit über Erfolg, von der Niederlage bis hin zur Tragödie. Von Gesundheit über Krankheit zur Genesung. Diese beiden Eckpfeiler bringt die mexikanische Autorenfilmerin Lila Avilés zusammen. Es ist, als würde sie den Raum krümmen, um die beiden auseinanderklaffenden Ereignisse näher zusammenzubringen und sie zu verschmelzen zu einer Medaille mit naturgemäß zwei Seiten. Das bekommt man hin, wenn der Geburtstag eines todkranken Menschen ins Haus steht. Von einem, dessen Tod am Horizont bereits zu sehen ist, der aber anhand eines Festes daran erinnert werden soll, als jemand geboren worden zu sein, der niemandem egal war. Es ist Tona (Mateo García Elizondo), Künstler und Vater des siebenjährigen Mädchens Sol (Naíma Senties) – wie die Sonne. An diesem einen Tag, auf den Avilés Film seine Kamera richtet, wird so Einiges passieren, doch nichts davon ist für sich alleine dramatisch genug, um daraus eine eigene Geschichte zu erzählen.

    Tótem beginnt, als Sol zu ihren Tanten gebracht wird. Die wohnen mitsamt dem alten Vater und eben dem kranken Tona in einer stattlichen Hazienda mit vielen Räumen, jeder davon birgt eigene Episoden der Vorbereitung auf ein großes Fest, an dem alle zusammenkommen sollen – Familie, Freunde, einfach alle, die den Lebensweg Tonas begleitet haben. Sol ist von Anfang an irgendwie fehl am Platz. Sie ist zwar Teil der Familie, hält aber Distanz zu allen anderen. Der, zudem sie will, nämlich zu ihrem Vater, bleibt unerreichbar. Starke Schmerzen erleidend, muss dieser sich auf seinen letzten Auftritt vorbereiten, mithilfe einer sich aufopfernden Pflegerin namens Cruz, die als einzige eine gewisse Nähe zu Sol aufbauen kann, die wiederum lieber mit den Tieren interagiert, die sich im Garten versteckt halten. Diese anderen Lebewesen, die haben für das Mädchen eine besondere Bedeutung. Vielleicht jene eines Tótems – eines Wesens, das in seiner Art und Weise einzelne Personen oder die ganze Sippe symbolisiert.

    Viel mehr Handlung gibt es kaum in diesem innigen Portrait einer aus dem Häuschen befindlichen Familie, einer fast unzählbaren Gruppe an Kindern und Erwachsenen, die jede und jeder für sich sowohl in heller Aufregung vor dem kommenden Fest in ihrer Geschäftigkeit sich selbst überholen oder nicht wissen, wohin. Und dann das unterschwellige Gefühl des Abschieds. Was also soll gefeiert werden? Das Leben oder der Tod? Oder ist nicht beides ein und dasselbe? Freude und Trauer, Lachen und Weinen, Haare färben, Duschen, Kuchen backen. Dazwischen der Auftritt eines Mediums, welches das Haus von bösen Geistern befreien soll. Irgendwo am Rande Sol, die sich ein Fort aus Kissen baut. Die nur auf ihren Vater wartet, einen Goldfisch geschenkt bekommt und letztlich in die Flammen der Kerzen auf der Geburtstagstorte starrt – vielleicht, um die Sphäre des Diesseits mit ihren Blicken zu durchdringen.

    Was Avilés in ihrem Ensemblefilm so übermäßig gut gelingt, ist, ein aus vielen kleinen, alltäglichen Miniaturen ein vollständiges Puzzle zu legen. Anfangs fällt es einem selbst schwer, sich in dieses quirlige Chaos an Planen, Vorbereiten und Durchführen irgendwie zurechtzufinden. Man fühlt sich wie Sol, man geistert durch eine hektische Betriebsamkeit, ohne Halt zu finden. Avilés Werk ist somit ein Film, durch den man sich treiben lassen muss – und beobachten. Die Puzzleteile werden mehr, bald lernt man all die Verwandten kennen, und anhand ihrer kleinen Szenen aus Charakterstudie, Verhaltensmuster und sozialer Interaktion entsteht tatsächlich sowas wie Vertrautheit, die sich immer mehr steigert, als wäre man schlussendlich selbst Teil dieser Familie, die einem so seltsam bekannt vorkommt. Es liegt an der Natürlichkeit in diesen Szenen, an diesem fast intuitiven, vielleicht gar improvisierten Spiel, das fast den Charakter eines Stegreifstücks hat, denn nichts davon wirkt einstudiert und scheint nur aus einer spontanen, einmaligen Empfindung heraus entstanden zu sein. Das macht Tótem so lebendig, niemals langweilig, geradezu saukomisch und in seinen stillen Momenten metaphysisch genug, um die Hoffnung auf mehr als nur dieses Leben wie die Kerzen auf der Torte am Brennen zu halten.



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    03.12.2023
    14:32 Uhr
  • Ein außergewöhnliches Fest für Papa

    Schon die Eingangsszenen geben den Ton vor und lassen erahnen, dass Tótem ein Film über Familie ist. Einer mit lustigen, aber auch mit traurigen Momenten. Die kleine Sol erlaubt sich auf einer öffentlichen Toilette einen Spaß mit ihrer Mutter. Anstatt sauer zu sein, stellt sich diese der ‚Herausforderung‘; mehr soll nicht verraten werden. Ganz nah ist die Kamera bei ihren Figuren, auch beim Mutter-Tochter-Ritual unter der Brücke. Beide dürfen sich etwas wünschen. „Dass Papa nicht stirbt“, verrät Sol. Trauer und Hoffnung trotz der hoffnungslosen Situation schwingen in diesem Wunsch mit.

    Mutter und Tochter sind nicht zu irgendeiner Party unterwegs, sondern zur Geburtstagsfeier für den schwer kranken Vater. Eine der wenigen Gelegenheiten, den Papa zu sehen. Vielleicht die letzte. Das Ziel ist bald erreicht: das etwas abgelegene Haus der Großfamilie, die den Großvater, Onkel und Tanten und deren Nachwuchs einschließt. Kaum angekommen, geht das Familienchaos los. Schließlich muss alles perfekt vorbereitet werden für die Feier. Dekoration und Kuchen, Haare machen, Aufräumen. Jedes Mitglied ist beschäftigt, Sol wird zur stillen Beobachterin, die kaum jemand wirklich wahrnimmt. Mit ihren Gefühlen, ihrem Schmerz, dass ihr Vater sie nicht sehen kann, weil er zu schwach ist, oder gar will, wird sie alleingelassen. Immer wieder zieht sie sich in die Natur zurück. Dort ist es still, während alle anderen hektisch vorbereiten und diskutieren, wie man dem kranken Tona am ehesten helfen könne. Wie man mit dem herannahenden Tod umgehen solle.

    Nichts wird unversucht gelassen, wobei einige skurrile Methoden gleichzeitig die Eigenarten der einzelnen Familienmitglieder enthüllen. Das sorgt für komische Momente in all dem Drama. Denn die Tragik, die die Situation mit sich bringt, durchzieht den gesamten Film.

    Manchmal wird bei den Eigenheiten etwas zu dick aufgetragen. Hier wirkt das Skript zu konstruiert, zu gewollt. Vielleicht nicht mehr relevant genug, um durchgehend zu fesseln.

    Das hemmt das ohnehin etwas gemächliche Erzähltempo zusätzlich. Spannung wird eher mit dem Blick auf die Situation an sich generiert, der Fokus liegt auf dem Umgang der einzelnen Figuren mit dem Tod.

    Als Studie einer Familie in einer Ausnahmesituation funktioniert Tótem gut. Die ganz intimen Momente mit dem schwer gezeichneten Vater, Ehemann, Bruder, Sohn, Schwager, Onkel und Freund gehören zu den Highlights des Films. Sie vermögen mehr zu berühren als das hektische Vorbereiten oder die schrägen Einfälle der Verwandtschaft.

    Was das Filmerlebnis ein wenig trübt, ist, dass die Spannung nicht durchgehend gehalten wird, einige Momente zu überspitzt wirken. Dadurch gerät die Balance zwischen Tragik und Komik ins Wanken. Trotzdem ist Tótem ein interessanter Beitrag über Liebe, Tod, Familie und Abschied.
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    22.10.2023
    23:05 Uhr
  • Bewertung

    Dias de la familia

    Exklusiv für Uncut von der Berlinale 2023
    Nach ihrem sehr erfolgreichen Debüt „The Chambermaid“ gewährt uns Lila Avilés mit „Totem“ einen berührenden Einblick in die mexikanische Kultur und ihren Umgang mit dem Sterben.

    Ein großes Haus, überall herrscht völliges Chaos. Alle befinden sich mitten in den Vorbereitungen zu einem großen Fest. Über diesem hängt leider der Schatten des Todes. Aber lange kein Grund zum Verzweifeln…

    Aus meiner Beschreibung geht (mit Absicht) nicht ganz hervor auf wen sich die Geschichte konzentriert, und irgendwie doch. Genau wie beim Film selbst. Wer erwartet mit einer bestimmten Hauptfigur mitzugehen, könnte enttäuscht werden. Die fehlt beinahe ein bisschen. Am ehesten könnte man der kleinen Sol diesen Status zusprechen, sie begleiten wir von der Eröffnungssequenz an wohl am meisten. Aber eben nicht nur. Im Grunde genommen geht es genau darum die ganze Familie zu zeigen. In ihre Gefühlswelt tauchen wir dadurch nicht tief ein, nur wie sie mit der aktuellen Situation umgehen. Sols Vater leidet nämlich an Krebs im Endstadium. Das große Fest soll seinen Geburtstag begehen, der vielleicht sein letzter sein könnte, also auch gleichzeitig ein Abschied sein. Im Tod zelebrieren sie das Leben.

    Etwas das man sich als Mitteleuropäer kaum vorstellen kann. Allein durch die internationale Bekanntheit des „Dia de los muertos“ wissen wir zwar wie die Mexikaner mit der Thematik des Sterbens umzugehen wissen; hier ist dies jedoch förmlich erlebbar. Das Leben sieht man auch deutlich an der reichhaltigen Tierwelt die zahlreich im Mittelpunkt steht. Eine tiefere Bedeutung hat sich mir nicht offenbart, aber es fällt definitiv auf, insgesamt konnte ich etwa acht verschiedene Tierarten zählen, die jeweils kurz in den Fokus gerückt wurden.

    Dass aber gerade alles auseinander zu brechen droht ist nicht nur am vorherrschenden Chaos spürbar (Als jemand der auch aus einer großen Familie kommt, bei deren Feiern es mitunter so zugeht, konnte ich mich da besonders hineinversetzen). Wie sie sich von Scharlatanen und Esoterikern ausnutzen lassen, verleiht dem Drama zwischendurch ein bisschen Komik, zeigt aber wie sehr sie sich doch an jede Hoffnung klammern. Auf der Familie scheint fast schon ein Fluch zu liegen; die Großmutter starb an Krebs, der Großvater ist von Krankheit gezeichnet.

    „Totem“ beginnt dazu mit einem extrem intimen Moment, nämlich auf der Toilette, und stellt damit sofort klar: das hier wird eine sehr persönliche Geschichte. Gewidmet hat sie die Regisseurin ihrer eigenen Tochter, sie wurde selbst jung Mutter. Ob es einen biografischen Hintergrund gibt, konnte ich nicht ganz erfahren, ist aber auch irrelevant. Der Film strahlt durchgehend eine so familiäre Atmosphäre und Wärme ab, dass man sich einfach selbst geborgen fühlt. Der unglaubliche Realismus wird ihm nicht zuletzt durch den Einsatz von viel Handheld-Kamera in 4:3 Format und einem sehr warmem Farbspektrum verliehen. Man fühlt sich einfach als ob man eine echte Familie begleitet, als wäre es eine Dokumentation.

    Die fühlt sich aber auch deswegen so real an, wegen den großartigen schauspielerischen Leistungen aller Beteiligten, allen voran natürlich die Kinderdarstellerin Naíma Sentíes als Sol, in einem fantastischen Debüt. Für die Regisseurin sind es vor allem sie, die die „Quelle der Kraft“ des Films ausmachen. Und das merkt man, sowohl vor als auch hinter der Kamera. Denn wie sie sich bei der Pressekonferenz präsentiert haben, spiegelt diese familäre Beziehung total wider.
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    26.02.2023
    08:27 Uhr