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    Geistiges Erbe ist wie Asche im Wind

    Es ist schön, inspirierend und bereichernd, auf Filmfestspielen wie der Viennale Werke von Filmemachern anzutreffen, deren Arbeitsweise man bislang nicht kannte und die auf die eigenen Sehgewohnheiten treffen wie frischer Regen auf die blank geputzte Windschutzscheibe eines Autos. Immer wieder aufs Neue ist die Begegnung im Kino horizonterweiternd, und gerade auf eine Weise, die man nicht kommen sieht, die einen anfangs vielleicht irritiert oder vielleicht gar Ablehnung hervorruft, aber doch eine gewisse Neugier gegenüber einem Stil entlockt, der am Ende der Geschichte seine Berechtigung hat. So einen Zustand weckt Philippe Garrels pointiertes Drama La Grand Chariot, was so viel heisst wie Der große Wagen – was aber nichts mit dem Sternbild am Firmament zu tun hat, sondern mit dem kleinen Puppentheater eines Budenzauberers, der diese Kunstfertigkeit Jahrzehnte schon betreibt, diese selbst vererbt bekommen hat und letztlich natürlich weitergeben will an seine Kinder Martha, Lena und Sohnemann Louis. Mit ihnen rockt er auch die Schaubühne, nicht mehr als ein rustikaler Bretterverschlag, angebaut ans Eigenheim. Kinderlachen lässt die Holzbänke knarzen. Motivation, die Lust am Spaßmachen und Geschichtenerzählen: das alles ist da. Natürlich so lange, wie Papa auch den Ton angibt. Doch irgendwann verstummt auch dieser. Der große Puppenspieler lässt die in Handarbeit entstandenen Figuren sinken, nimmt den letzten Atemzug – und dann kommt das Vakuum. Ein chaotischer Umstand aus Verpflichtung, Verehrung und Tradition. Die Tournee wird abgesagt, der Angestellte Peter, Lebenskünstler und eigentlich Maler, der mit seinen eigenen Werke irgendwann groß rauskommen will, ist der erste, der sich abseilt, hat dieser ohnehin längst vorgehabt, die Mutter seines neugeborenen Sohnes sitzen zu lassen, um mit einer anderen unter dem Freiheitsdrang und der Autonomie, wie sie Künstler eben haben, durchzubrennen.

    Nacheinander stürzen die Säulen der Beständigkeit einer Profession zu Boden, selbst die Großmutter, die den Tod ihres eigenen Sohnes mitansehen hat müssen, verliert sich in ihrer Demenz, Schauspieler Louis (Louis Garrel, Die drei Musketiere – D’Artagnan) geht ans Theater. Das Puppenspiel wird zum Schatten seiner Hochzeit, zum traurigen Abgesang, bei dem selbst Stücke mit dem Titel Das goldene Schlüsselchen niemanden mehr ins Auditorium locken. So bröckelt der Verputz, so bröckeln die Erinnerungen, die Illusionen und der Glaube, dem verstorbenen Papa die Weiterführung seines Vermächtnisses schuldig zu sein.

    Das alles klingt hochdramatisch, sentimental und bittersüß. Nach intensivem Gefühlskonzert und vielerlei Tränen. Wider Erwarten ist es das aber nicht. Philippe Garrel, der den Film mit gefühlt seiner ganzen Familie besetzt hat, hält nichts von Gefühlsduselei, von französischer Melancholie, vom Chanson-Charakter eine Yves Montand oder Gilbert Bécaud. Le Grand Chariot ist so erfrischend unfranzösisch, dass man die Stirn in Furchen legt. Es wäre nicht zu erwarten gewesen, dass Garrel in dieser Erzählung sein Publikum immer wieder vor vollendete Tatsachen stellt. Vieles passiert innerhalb eines Jahres, und dennoch bleibt das Gefühl, hier mehrere Jahre dabeigewesen zu sein. In großen Zeitsprüngen illustriert der Filmemacher seinen Abgesang auf das Mysterium eines künstlerischen Determinismus in der eigenen Familie und auf das ungeschriebene Gesetz der bedingungslosen Ehrbarkeit elterlicher Vermächtnisse. Die Rolle des Peter, des ausserfamiliären Möchtegernkünstlers, bekommt im Laufe des Films immer mehr Gewicht. Seine Vorbestimmung, von der er glaubt, ihr entsprechen zu müssen, gerät zum Wahnsinn. So oder so darf und kann von Natur aus und nach freiem Willen aus Allem nichts werden, und aus dem Nichts alles entstehen.

    Le Grand Chariot ist faszinierend nüchtern und ernüchternd virtuos. Der Pragmatismus hat dabei im französischen Drama noch selten so eine selbstbewusste Rolle gespielt wie in diesem speziellen Kleinod aus leiser Nostalgie und ausbleichendem, familiären Gruppenbild mit Puppen.



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    01.11.2023
    14:04 Uhr
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    Kindertheater

    Exklusiv für Uncut von der Berlinale 2023
    Altmeister Philippe Garrel (u.a. „Das Salz der Tränen“) tritt erneut im Wettbewerb der Berlinale an. Warum mich sein Film so aufgeregt hat, erfahrt ihr hier in meiner Kritik.

    „Le grand chariot“, „Der große Wagen“, ist als fahrendes Puppentheater eine Familienunternehmung par excellence. Vater, Großmutter und die 3 Kinder, unterstützt von einem Freund, erfreuen jung und alt mit ihren Handpuppen. Als der Vater jedoch überraschend stirbt, ist der Fortbestand dieser Institution bedroht…

    Ernsthaft, wie macht man eine Geschichte über ein Puppentheater uninteressant? Die Spielfreude spürt man nämlich in jeder Szene. Eine Story in der Story hätte sich hier förmlich angeboten. Die Stücke sind aber sehr komplex, teilweise fragt man sich ob die wirklich für Kinder gemacht werden. Vielleicht hab ich sie auch nicht ganz verstanden, aber es hat sich mir nicht erschlossen was mir der Regisseur damit vermitteln wollte.

    Man hätte eine bewegende Geschichte erzählen können, wie sie sich nach dem furchtbaren Ereignis gemeinsam aufraffen um das Erbe weiterzuführen. Oder eine tragische Charakterstudie, wie sie an eben diesem zerbrechen und den Untergang einer Tradition miterleben. Garrel entschied sich nichts von beidem zu tun. Stattdessen konzentriert er sich vorrangig auf die unwichtigste Figur, den Freund der Familie, ein gescheiterten Künstler und Vater wider Willen. Aber auch nicht so, dass man ihn als Protagonist einstufen könnte, dafür kehren wir zu abrupt und„zu oft“ zu den Kindern zurück.

    Die „Kinder“ genießen ihre Arbeit sichtlich sehr, nicht nur im Film. Sie werden nämlich von niemand anderem als den Sprösslingen von Philippe Garrel selbst, Lena, Esther und Louis, verkörpert, die im Film zum ersten Mal vor der Kamera vereint sind. Die familiäre Beziehung könnte also kaum realer sein. Generell glänzen alle in ihren Rollen, auch Damien Mongin als deren Freund. Da wünschte ich mir erst recht die Handlung wäre fokussierter gewesen. Dafür macht es zumindest Spaß ihnen zuzusehen.

    Im Gegensatz zu zahlreichen Arthouseproduktionen, zu denen mir der Zugang fehlt, scheint „Le grand chariot“ schon offensichtlich einen narrativen Anspruch zu haben und der kommt bei mir einfach nicht an. Vielleicht wäre ich in einem richtigen Kasperltheater besser aufgehoben gewesen.
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    01.03.2023
    21:28 Uhr