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    Koloniale Operette eines Untergangs

    Es ist des wunderbaren Peter Simonischeks letzte größere Rolle: Als Josef Ritter von Waldstätten, Professor für Anthropologie, mit weißem Rauschebart und unverkennbarer Stimmlage die Rassentheorie verbreitend, ohne es besser zu wissen. In Zeiten wie diesen – wir schreiben das Ende des neunzehnten Jahrhunderts – sind Menschen noch lange nicht alle gleich, nicht mal oder schon gar nicht in der Wissenschaft. Um die Unterschiede besser zu untersuchen, dürfen Waldstättens Doktoranden, darunter Alexander Hoffmann (Leonard Scheicher) im Rahmen der Berliner Völkerschau eine Delegation der Herero willkommen heißen, deren Land Namibia von Deutschland annektiert wurde. Jeder der Studierenden darf sich eine der Besucherinnen oder Besucher als persönliches Anschauungsobjekt unter den Nagel reißen – ob diese wollen oder eben nicht. Menschenrechte sind etwas fürs nächste Jahrhundert, möchte man meinen. Und noch nicht mal dann, so werden wir feststellen, werden so wundersame Dinge wie Selbstbestimmung, Freiheit und Frieden den Globus umspannen. Es wird noch schlimmer kommen – die Wurzeln dafür finden sich in der Wissenschaft, in mit Zirkel und Messinstrumenten abgetasteten Zahlendaten für Kopfumfang und Nasenbreite – wie lächerlich. Die ach so gebildeten zukünftigen Forscher, überwältigt durch ihren Drang, Erkenntnisse zu erlangen, fühlen sich, wie Alexander Hoffmann, vielleicht etwas befangen – oder gar geplagt durch ein Gewissen, dass sie dazu führt, im Zuge reflektierender Überlegungen Menschen wie die Herero als vollwertig zu betrachten – und sich mit ihnen an einen Tisch zu setzen. Kezia Kambazembi, die ihm zu Studienzwecken zugewiesene junge Afrikanerin, wird für Hoffmann zum Grund dafür, nach deren Abreise selbst nach Namibia aufzubrechen, um sie wiederzufinden. Eine banale Romanze im Rahmen einer Chronik historischer Verfehlungen?

    Zum Glück nicht. Das wäre ein Hohn auf die zu erlangende Ernsthaftigkeit, die Lars Kraume natürlich vorschwebt, um Geschichte lebendig werden zu lassen – selten gezeigte Geschichte, ein regelrecht tiefschwarzes Kapitel deutschen Kolonialismus, denn von nichts anderem handelt Der vermessene Mensch als vom Genozid der „Herrenmenschen“ an den Herero und Nama. Das Beste an Kraumes Film ist da immer noch die Zweideutigkeit des Titels. Man kann diesen entweder so lesen, in dem das wissenschaftliche Vermessen afrikanischer Ethnien thematisiert wird – oder eben, in dem die Vermessenheit der weißen Europäer, fremde Länder zu besetzen und dort notgedrungenen Widerstand mit mutwilliger Waffengewalt zu brechen, zur üblen Eigenschaft mutiert.

    Die Ambition, im Rahmen eines Spielfilms für Aufklärung zu sorgen, mag begrüßenswert sein. Die Umsetzung jedoch atmet die abgestandene Luft eines lange nicht mit Sauerstoff versorgten Kostüm- und Requisitenfundus, der endlich mal entrümpelt wurde, um auszustatten, wo es nur geht. Man sieht, wie es damals wohl ausgesehen haben mag, man kann sich vorstellen, wie rustikal das Reisen durch die Wüste vonstatten ging. Wie handbemalte Zinnsoldaten über penibel arrangierte Dioramen marschiert das deutsche Militär durch die Fremde oder bellt hinter gezwirbelten Schnurrbärten Befehle zur Tötung und Unterwerfung der Aufständischen. Inspiriert von alten Fotografien, biedert Der Vermessene Mensch durch eine humanitäre Katastrophe. Die Erfahrungen, die Alexander Hoffmann letztlich macht, sind denen des Seemanns Marlow aus Joseph Conrads Herz der Finsternis nicht unähnlich. Der verstörende Weg zur Erkenntnis hätte die zentrale Figur von Kraumes Film auch auf eine innere Reise schicken können. Mag sein, dass diese Vorgehensweise einem gewissen Idealismus entspräche, der das Grauen von damals verkitscht oder verharmlost. Und dennoch ist Scheichers Figur substanzlos und schal, lediglich beobachtend und sich selbst verratend als Teil eines Systems, aus dem keiner ausbrechen kann.

    Ernüchternd mag das alles sein, pessimistisch und anklagend. Und doch bleibt das alles nur verhaltene Bühne mit Schauwerten, die inmitten historischen Horrors selbst ein bisschen wie eine Volksschau anmutet, obwohl die Intention für diesen Film klarerweise eine ganz andere ist. Eine, die nie wieder vermessen und nicht vergessen will.



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    09.12.2023
    15:22 Uhr
  • Bewertung

    An der Grenze der Menschlichkeit

    Exklusiv für Uncut von der Berlinale 2023
    In „Der vermessene Mensch“ arbeitet Lars Kraume ein dunkles Kapitel deutscher Geschichte auf, das sonst wenig Beachtung bekommt.

    Alexander Hoffmann (Leonard Scheicher) will es seinem Vater nachtun und als Ethnologe für Aufklärung sorgen. An der Universität kämpft er gegen den vorherrschenden Rassismus und das Übermenschendenken, was seine Karriere gefährdet. Als er die Möglichkeit bekommt Afrika direkt zu erforschen wird er nicht nur Zeuge eines furchtbaren Verbrechens, sondern auch an die Grenzen seiner eigenen Moral gedrängt …

    Unzählige menschliche Schädel der Nama und Herero, deren Nachfahren im heutigen Namibia leben, sind immer noch in deutschen Museen ausgestellt und nie zurückgegeben worden. Diesem Missstand will sich der Film annehmen und mit uns in die Zeit zurückreisen, die dafür verantwortlich ist. Damals trug das Land nämlich noch als deutsche Kolonie den Namen „Deutsch-Südwestafrika“.

    Nachdem Hoffmann bei der Völkerschau des Kaisers mit den dazu gezwungenen Stämmen in Kontakt kommt, als er ihre Schädel vermessen soll, lernt er die Intelligenz dieser schätzen. Er will diesen Umstand nutzen um mit den bestehenden Rassentheorien zu brechen, die später den Weg für den Nationalsozialimus ebnen sollten. Ein vermessenes Vorhaben.

    Die Doppeldeutigkeit des Titels ist sicher kein Zufall. Wir lernen den Protagonisten als sehr naiven Weltverbesserer kennen, müssen aber mitansehen, wie er langsam an seinen eigenen Idealen zerbricht. Irgendwann kann er sich selbst wörtlich nicht mehr im Spiegel ansehen. Er wird mit der Frage konfrontiert, wie weit er bereit ist zu gehen im Namen der Wissenschaft und seiner Überzeugung, und auch wenn es mal um sein eigenes Leben geht. Er plündert Gräber, stiehlt Eigentum und findet sich inmitten eines Völkermords wieder. Auch erlebt er hautnah die ersten Konzentrationslager mit.

    Dazwischen lauert jedoch viel Altbekanntes. Die Mutter wünscht, dass er eine reiche Herzogin heiratet um den Wohlstand der Familie zu verbessern, er hat aber nur die Ethnologie im Kopf. In der Kolonie muss er sich als einziger Zivilist gegen die sturen Militaristen durchsetzen, zu Hause gegen alle an der Universität. Dieses Allein-gegen-alle Schema ist mir für eine Geschichte dieser Schwere ein bisschen zu klischeehaft; er wird mir anfangs etwas zu ritterlich dargestellt mit Wertvorstellungen direkt aus dem 21. Jahrhundert, seine Kommilitonen dafür fast schon übertrieben als Nazis im Werden. Im Großen und Ganzen dürfte das schon historisch korrekt sein, doch ein bisschen mehr Ambivalenz der Figuren hätte nicht geschadet. Irgendwann legt sich das dann aber zu Gunsten eines tragischen Charakterzerfalls.

    Religion spielt ebenfalls eine große Rolle. Der Konflikt zwischen dieser und der Wissenschaft ist ein prägendes Thema, beide haben in der Vergangenheit Verbrechen begangen, doch beide leisten auch wichtige Arbeit. Hoffmann glaubt als Mann der Wissenschaft an gar nichts, den Soldaten bleibt im trostlosen Alltag des Krieges aber nichts anderes übrig als auf Gott zu vertrauen. Der Film geht generell sehr nüchtern mit dem Thema um, dadurch aber auch sehr respektvoll, es wird ultimativ keine Seite gewählt.

    Vom technischen Standpunkt zeigt sich ein gut gemachter Historienfilm. Die Kostüme sind toll umgesetzt, die Atmospäre stimmig. Gedreht wurde passenderweise in Namibia und Südafrika, die Naturkulisse herrlich eingefangen. Die wenigen Actionszenen trumpfen mit soliden Spezialeffekten auf.

    Leonard Scheicher als Ethnologe und Girley Charlene Jazama als Herero liefern sehr erinnerungswürdige Darstellungen, dazu Sven Schelker als Lieutnant und Hoffmanns Gegenpol. Peter Simonischek als Mentor und Universitätsdozent ist dazu noch erwähnenswert. Auch ansonsten präsentiert sich das Ensemble solide.

    Am Ende bleibt ein äußerst erschütterndes Erlebnis, dessen Wirkung durch die genannten Klischees leider ein bisschen geschmälert wird.
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    24.03.2023
    14:39 Uhr