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    Algorithmen der Konfliktlösung

    Letzten Mittwoch war für den mit der goldenen Lola ausgezeichneten Spielfilm Das Lehrerzimmer Österreich-Premiere im Wiener Traditionskino Filmcasino. Leider war ich an dem Tag dort nicht zugegen, sonst hätte ich Akteurin Leonie Benesch persönlich die Hand schütteln können. Na gut, dann eben zwei Tage später. Denn ein Thema wie dieses kann ich schließlich nicht anbrennen lassen – Kino mit Gesprächsstoff, erhellend für den Alltag und das Miteinander. Das war schon bei Thomas Vinterbergs Die Jagd faszinierend genug – eine Chronik der Eigendynamik gesellschaftlicher Entrüstung. Auch der rumänische und zugegeben nicht ganz leicht zu verkostende Avantgarde-Knüller Bad Luck Banging or Loony Porn handelt von einer bigotten, heuchlerischen Elternschaft, die Wasser predigt und Wein trinkt. Alles Filme, die durchaus tief ins Fleisch des Wohlstands schneiden. Und ja, sie tun weh. Und noch besser: Sie bringen die Problematik auf den Punkt. Wer da nicht selbst reflektiert, dem ist nicht mehr zu helfen.

    Ähnlich, aber nicht ganz so sarkastisch, sondern recht nüchtern und wertfrei, geht der Schulthriller Das Lehrerzimmer mit einer Problematik um, die nur allzu leicht allzu neugierige Schüler und Lehrer hinter ihrem Pult hervorlockt, ohne sie alle dazu aufzufordern, ihr Tun sofort zu überdenken. Vieles passiert da im Affekt, vieles lässt sich rein von den Emotionen treiben. Da könnte man meinen, gar nicht mal auf einer Schule zu sein, dem Ort des Wissens und der Bildung und vielleicht auch einer gewissen sozialen Intelligenz. Kann aber auch sein, dass sich in diesem Wald moralischer Zeigefinger der eine oder andere Fisch hinein verirrt hat, der gegen den Strom schwimmt. So jemand ist Leonie Benesch als Klassenvorstand Carla Nowak – jung und idealistisch und Methoden praktizierend, die bei den schon alteingesessenen Lehrkräften vielleicht für Verwunderung sorgen, allerdings aber frischen Wind durch die Klassenräume wehen lassen. Fast schon ein bisschen wie Robin Williams im Club der toten Dichter, nur für jüngere Semester. Carlas Schülerinnen und Schüler sind gerade mal 12 Jahre alt – und ja, es ist ein Alter, in welchem man Recht und Unrecht sowie unlautere Methoden von vernünftigen Vorgehensweisen unterscheiden kann, um einer gewissen Wahrheit ans Licht zu verhelfen.

    Denn ein Dieb geht um, und natürlich kann dieser nur einer der Jungen sein. Lehrer würden sowas nie tun. Ein Verdacht fällt anfangs sehr schnell auf einen türkischstämmigen Schüler namens Ali – der hat aber mit der ganzen Sache nichts zu tun, die Eltern sind brüskiert. Da fällt der übermotivierten Carla eine detektivische Methode ein, um der Sache auf den Grund zu gehen – und zwar im Lehrerzimmer. Mit Geld als Köder, dass sie an ihrem Arbeitsplatz zurücklässt. Sie schafft es, den Langfinger auf Video zu bannen – die mit Sternen bemusterte Bluse trägt an diesem Tag nur eine: Frau Kuhn aus dem Sekretariat. Die denkt natürlich nicht daran, ihre Tat zuzugeben. Ganz im Gegenteil, sie wählt lieber den Angriff, um sich besser zu verteidigen. All das setzt eine Maschinerie aus Zufällen und Verkettungen in Gang, aus der sich selbst Ìlker Çatak gemeinsam mit Drehbuchautor Johannes Duncker nicht mehr herauswinden kann. Dieser Karren aus Begehrlichkeiten, Bedürfnissen und Rechthaberei steckt letzten Endes so tief im Dreck, dass ihn keiner mehr herausziehen kann. Da hilft vielleicht nur noch: loslassen. Das hat zur Folge, dass Das Lehrerzimmer zu keinem Konsens kommt, keine Lösung hat und keine Lösung will. Er setzt sich auch nicht bis zur letzten Konsequenz mit seinem geschaffenen Chaos auseinander. Muss er das denn? Ein bisschen ist man enttäuscht, als das ganze abrupt endet. Andererseits bleibt die Frage, um wen es in diesem Film eigentlich wirklich geht. Und wo der richtige Ansatz für eine Lösung begraben liegen könnte.

    Und tatsächlich fragt man sich auch all die 98 Minuten des Films hindurch, wo die Quelle der Vernunft zu finden wäre. Was man wohl selbst hätte anders gemacht oder was man genauso gemacht hätte. Dass die Eigeninitiative von Leonie Beneschs Figur gleich zu Beginn aufgrund naiver Vorstellungen, was die Bereitschaft des Menschen betrifft, Schuld einzugestehen, wenn doch die Scham so sehr im Weg ist, natürlich nicht hinhauen wird, verwundert nicht. Da wären Alternativen noch möglich gewesen – später nicht mehr. Später verdichtet sich die Unordnung zu einem schwarzen Loch und verlangt einen Algorithmus, den man so noch nicht kennt. Çatak schafft hier die Analogie mit Rubiks Zauberwürfel – eine schöne Idee. Doch nicht mal Klassenvorstand Carla Nowak kann das Rätsel knacken.

    Leonie Benesch hat hier offensichtlich ihre Hausaufgaben gemacht, denn fast scheint es unmöglich, glaubhaft eine Lehrkraft zu verkörpern, ohne sich mit der Materie vertraut gemacht zu haben. Die Rolle stemmt sie mit Bravour. Pädagogisch und zwischenmenschlich extrem geschult, braucht es viel mehr als das, um ihre Figur wirklich aus dem Konzept zu bringen. Trotz der Erschwernis der Sachlage steht sie zu ihrem Tun – da sieht man, was unerschütterlicher Idealismus alles bringen kann.



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    13.05.2023
    15:00 Uhr
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    Die Idealistin und die Nulltoleranzpolitik

    Exklusiv für Uncut von der Berlinale 2023
    Was passiert, wenn der Idealismus eines Individuums auf ein System trifft, das im Widerspruch dazu steht? Was, wenn man in diesem System trotzdem versucht, alles richtig zu machen, seinen Prinzipen treu zu bleiben, immer gerecht zu sein und keine Vorurteile zu haben? Ist es überhaupt möglich, seinen Idealen in einem solchen System zu folgen? Das sind einige der Fragen, denen İlker Çatak („Es war einmal Indianerland“, „Es gilt das gesprochene Wort“, „Räuberhände“) und sein Ko-Autor Johannes Duncker in „Das Lehrerzimmer“ nachgehen.

    Carla Nowak (Leonie Benesch) ist Mathematik- und Sportlehrerin an einem Gymnasium. Sie ist jung, gerade neu an der Schule und eine Lehrerin, wie man sie sich wünscht: engagiert, fair, in den richtigen Momenten streng, aber immer verständnisvoll und mit einem Fokus auf das Wohl der Schüler*innen. Als an der Schule eine Reihe an Diebstählen begangen werden, stellt sie sich auf die Seite des beschuldigten Schülers. Als sie jedoch anschließend die tatsächliche Diebin entlarvt (oder zu entlarven glaubt), wird Carlas Idealismus auf die Probe gestellt.

    Die Schule als Mikrokosmos, in dem gesellschaftliche Strukturen in konzentrierter Form vorgeführt werden, inszenieren Çatak und Kamerafrau Judith Kaufmann („Corsage“) als eine Art Psychothriller, der in Momenten an die vor Anspannung platzenden Szenen aus „Uncut Gems“ oder „The Bear“ erinnert. Enge 4:3-Bildkompositionen, Nahaufnahmen von Carlas Gesicht und ein spannungsgeladenes Streicher-Motiv lassen uns den Druck spüren, unter dem die junge Lehrerin von Beginn an steht. Der gesamte Film spielt nur in dieser Schule, es gibt kein Außerhalb, es gibt kein Entkommen aus dieser Situation.

    Zunächst sind die Sympathien klar verteilt. Carla Nowak muss miterleben, wie ihre Kolleg*innen mithilfe fragwürdiger Methoden herauszufinden versuchen, wer für die Diebstähle verantwortlich ist. Es gebe nun mal eine „Nulltoleranzpolitik“, wie die Schuldirektorin (Anne-Kathrin Gummich) immer wieder betont. Das Kollegium, allen voran der mindestens unterschwellig rassistische Thomas Liebenwerda (Michael Klammer), bittet daher einzelne Schüler*innen, ihnen Namen zu nennen. Alles vertraulich natürlich, und freiwillig sowieso, gezwungen wird hier niemand. Auch nicht die Jungen, die freundlich, aber mit Nachdruck, gebeten werden, ihre Geldbörsen vorzuzeigen, nachdem die Mädchen aus dem Raum geschickt werden. Wer nichts zu verbergen habe, müsse sich schließlich keine Sorgen machen. Carla ist mit diesen Methoden nicht einverstanden, sie macht sich im Lehrerzimmer unbeliebt, weil sie widerspricht. Man kann eigentlich nur auf ihrer Seite sein, wütend darüber, ungefragt in diese geheimdienstähnlichen Methoden verwickelt zu werden.

    Doch als Carla schließlich selbst Anschuldigungen vorbringt, verschieben sich die Sympathien. Die Grenzen von gut und böse verschwimmen. In einer Mathematik-Übung zu Beginn des Films erklärt Carla den Schüler*innen den Unterschied zwischen einem (mathematischen) Beweis und einer Annahme. Im Laufe des Films wird immer deutlicher, dass die Trennlinien zwischen Annahme und Beweis manchmal weniger eindeutig sind als gedacht. Auch wenn Carlas Intention immer die gleiche bleibt – das Richtige tun, es allen recht machen –, gerät die Situation zunehmend außer Kontrolle. Die Schüler*innen, vor allem die Redaktion der Schulzeitung, wenden sich gegen Carla und solidarisieren sich mit der Beschuldigten. Und man beginnt sich zu fragen, ob dieses (Schul-)System überhaupt Platz hat für Personen wie Carla Nowak, die an ihren Idealen festzuhalten versuchen.

    „Das Lehrerzimmer“ ist ein Film, der durch die Klarheit seiner Versuchsanordnung, seine formale Präzision und vor allem durch das Gefühl der Ambiguität überzeugt, mit der man am Ende aus dem Kinosaal entlassen wird. Leonie Benesch beweist mit ihrem Auftritt als junge Idealistin in einem festgefahrenen System zudem, dass sie zurecht im Rahmen der Berlinale als European Shooting Star ausgezeichnet wurde. Neben Buch und Inszenierung ist es auch der Verdienst ihres nuancierten Schauspiels, dass die innere Zerrissenheit, der Druck und die Frustration so greifbar sind.
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    02.03.2023
    20:44 Uhr