Exklusiv für Uncut von der Berlinale 2023
Was passiert, wenn der Idealismus eines Individuums auf ein System trifft, das im Widerspruch dazu steht? Was, wenn man in diesem System trotzdem versucht, alles richtig zu machen, seinen Prinzipen treu zu bleiben, immer gerecht zu sein und keine Vorurteile zu haben? Ist es überhaupt möglich, seinen Idealen in einem solchen System zu folgen? Das sind einige der Fragen, denen İlker Çatak („Es war einmal Indianerland“, „Es gilt das gesprochene Wort“, „Räuberhände“) und sein Ko-Autor Johannes Duncker in „Das Lehrerzimmer“ nachgehen.
Carla Nowak (Leonie Benesch) ist Mathematik- und Sportlehrerin an einem Gymnasium. Sie ist jung, gerade neu an der Schule und eine Lehrerin, wie man sie sich wünscht: engagiert, fair, in den richtigen Momenten streng, aber immer verständnisvoll und mit einem Fokus auf das Wohl der Schüler*innen. Als an der Schule eine Reihe an Diebstählen begangen werden, stellt sie sich auf die Seite des beschuldigten Schülers. Als sie jedoch anschließend die tatsächliche Diebin entlarvt (oder zu entlarven glaubt), wird Carlas Idealismus auf die Probe gestellt.
Die Schule als Mikrokosmos, in dem gesellschaftliche Strukturen in konzentrierter Form vorgeführt werden, inszenieren Çatak und Kamerafrau Judith Kaufmann („Corsage“) als eine Art Psychothriller, der in Momenten an die vor Anspannung platzenden Szenen aus „Uncut Gems“ oder „The Bear“ erinnert. Enge 4:3-Bildkompositionen, Nahaufnahmen von Carlas Gesicht und ein spannungsgeladenes Streicher-Motiv lassen uns den Druck spüren, unter dem die junge Lehrerin von Beginn an steht. Der gesamte Film spielt nur in dieser Schule, es gibt kein Außerhalb, es gibt kein Entkommen aus dieser Situation.
Zunächst sind die Sympathien klar verteilt. Carla Nowak muss miterleben, wie ihre Kolleg*innen mithilfe fragwürdiger Methoden herauszufinden versuchen, wer für die Diebstähle verantwortlich ist. Es gebe nun mal eine „Nulltoleranzpolitik“, wie die Schuldirektorin (Anne-Kathrin Gummich) immer wieder betont. Das Kollegium, allen voran der mindestens unterschwellig rassistische Thomas Liebenwerda (Michael Klammer), bittet daher einzelne Schüler*innen, ihnen Namen zu nennen. Alles vertraulich natürlich, und freiwillig sowieso, gezwungen wird hier niemand. Auch nicht die Jungen, die freundlich, aber mit Nachdruck, gebeten werden, ihre Geldbörsen vorzuzeigen, nachdem die Mädchen aus dem Raum geschickt werden. Wer nichts zu verbergen habe, müsse sich schließlich keine Sorgen machen. Carla ist mit diesen Methoden nicht einverstanden, sie macht sich im Lehrerzimmer unbeliebt, weil sie widerspricht. Man kann eigentlich nur auf ihrer Seite sein, wütend darüber, ungefragt in diese geheimdienstähnlichen Methoden verwickelt zu werden.
Doch als Carla schließlich selbst Anschuldigungen vorbringt, verschieben sich die Sympathien. Die Grenzen von gut und böse verschwimmen. In einer Mathematik-Übung zu Beginn des Films erklärt Carla den Schüler*innen den Unterschied zwischen einem (mathematischen) Beweis und einer Annahme. Im Laufe des Films wird immer deutlicher, dass die Trennlinien zwischen Annahme und Beweis manchmal weniger eindeutig sind als gedacht. Auch wenn Carlas Intention immer die gleiche bleibt – das Richtige tun, es allen recht machen –, gerät die Situation zunehmend außer Kontrolle. Die Schüler*innen, vor allem die Redaktion der Schulzeitung, wenden sich gegen Carla und solidarisieren sich mit der Beschuldigten. Und man beginnt sich zu fragen, ob dieses (Schul-)System überhaupt Platz hat für Personen wie Carla Nowak, die an ihren Idealen festzuhalten versuchen.
„Das Lehrerzimmer“ ist ein Film, der durch die Klarheit seiner Versuchsanordnung, seine formale Präzision und vor allem durch das Gefühl der Ambiguität überzeugt, mit der man am Ende aus dem Kinosaal entlassen wird. Leonie Benesch beweist mit ihrem Auftritt als junge Idealistin in einem festgefahrenen System zudem, dass sie zurecht im Rahmen der Berlinale als European Shooting Star ausgezeichnet wurde. Neben Buch und Inszenierung ist es auch der Verdienst ihres nuancierten Schauspiels, dass die innere Zerrissenheit, der Druck und die Frustration so greifbar sind.