1 Eintrag
1 Bewertung
70% Bewertung
  • Bewertung

    Ermitteln à la Möbius

    Die Zeiten sind anscheinend vorbei, in welchen sich Drehbuchautoren im Schreiben ihrer Krimi-Plots stets nach der Lauflänge ihrer Serien-Episoden richten mussten. Zugegeben: viele davon haben angesichts ihrer Plausibilität gleich vorweg die Flinte ins Korn geworfen. Andere, die vielleicht mehr Zeit für ihren Fall hatten, strapazierten das Sitzfleisch so mancher Zuschauer. Der Zufall wurde ausgereizt, das Glück des Ermittlers hielt sein Publikum oftmals für dumm. Im True Crime, dem Subgenre des Thrillers, lassen sich Fälle auf wesentliche Wendepunkte reduzieren oder Zeitsprünge wagen, welche die ganze Spannung aber auseinanderreißen können. So gesehen zuletzt in Boston Strangler, einem Versuch, den berüchtigten Mordfall aus den 60ern als Fakten-Entertainment zu verkaufen. Doch man muss als Filmemacher weder das eine noch das andere tun. Man kann Fiktives mit Dokumentarischem kombinieren und das Verhalten der Kriminologen in den Mittelpunkt stellen, die zunehmend daran verzweifeln, nichts zu Ende bringen zu können.

    Dominik Moll, der seit jeher mit dem Mysteriösen liebäugelt und mich mit dem an David Lynch-Werke erinnernden Lemming so richtig beeindruckt hat, konnte letztes Jahr mit In der Nacht des 12. beeindruckende Besucherzahlen schreiben sowie den französischen Filmpreis César fast so oft einheimsen wie die beiden Daniels mit ihrer Multiversum-Oper. Molls Anti-Krimi, wie ich ihn bezeichnen würde, hat sein interessiertes Publikum nicht für dumm verkauft. Hat Erwartungshaltungen unterwandert und sich davor gescheut, sich allen anzubiedern. Wie er das geschafft hat? Er hat sein Werk nicht einem filmischen Zeitfenster angepasst, sondern dieses einfach ignoriert. Ist der Fall nicht gelöst, endet das Ganze ungelöst. Wie bei Eduard Zimmermann und seinem (längst nicht mehr von ihm gehosteten) Dauerbrenner Aktenzeichen XY. Das Mysteriöse, Ungeklärte blieb das Geheimnis eines Erfolges. Niemand will in Wahrheit wirklich wissen, wer‘s war, außer bei Agatha Christie vielleicht. Doch jeder will wissen, wer es hätte sein können. Filme wie diese sind ein Rätsel, welches seine Aufgaben stellt und den Zuseher selbst ermitteln lässt. Ein interaktives Mitarbeiten setzt ein. Und das macht Spaß. Auch wenn ein Fall wie dieser wirklich nicht dazu einlädt, beschwingt ans Recherchieren zu gehen.

    Was In der Nacht des 12. In Grenoble geschieht, ist schließlich so grausam wie gespenstisch. Eine junge Frau namens Clara, gerade mal 21 Jahre alt, wird auf dem Nachhauseweg überfallen, mit Benzin übergossen und angezündet. Sie erliegt ihren Verbrennungen – tags darauf findet man die teils verkohlten Überreste in der Wiese nahe eines Sportplatzes. Polizeibeamter Yohan und sein älterer Kollege Marceau beginnen zu ermitteln. Das Ganze fängt natürlich damit an, den geschockten Eltern vom Ableben ihrer Tochter zu erzählen – harter Tobak. Als nächstes muss Claras Vertraute Nanie, die als letzte das Opfer lebend gesehen hat, einige Fragen beantworten, auch sie am Boden zerstört. Und so geht es weiter. Es stellt sich heraus, dass die junge, durchaus promiskuitive und gar nicht an feste Liaisonen interessierte Frau so manche Beziehungen hinter sich gehabt hat – mit den unterschiedlichsten Typen, die letztendlich alle, auf gewisse Weise, verdächtig sein könnten. Außer jene, die ein Alibi haben. Aber auch da heißt es zu hinterfragen.

    Man folgt den beiden Ermittlern, die selbst so ihre privaten Probleme haben, kreuz und quer durch die Provinz. Dabei nimmt sich Moll genug Zeit für all seine Figuren, um in wenigen Minuten von jedem hier einen plausiblen Steckbrief zu zeichnen. Der eine: gewalttätig, der andere: opportunistisch. Der dritte wiederum: trotzt dem System. Welches Verhaltensmuster also ist die beste Voraussetzung dafür, einen Mord zu begehen? Vor allem einen auf diese Art? In der Nacht des 12. wird immer mysteriöser. Puzzleteile passen nicht ganz zusammen, andere versprechen, die richtige Spur zu ergänzen. Und dann bringt man sich als Publikum selbst ins Spiel. Überlegt, rätselt. Und dennoch quält es einen nicht, am Ende nichts zu wissen. Es muss nicht alles gesagt, nicht alles auserzählt sein. Dominik Moll hält nicht viel von bewährten Mustern des Genres. Er will das Thema neu andenken – und findet die Lösung, in dem er einfach loslässt.


    Mehr Reviews und Analysen gibt's auf filmgenuss.com!
    filmgenuss_logo_quadrat_2a3baf4bcc.jpg
    13.04.2023
    15:01 Uhr