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    Im Umgang mit denen, die man liebt

    Dank Mia Hansen-Løve weiß ich nun, wo der große Ingmar Bergman gelebt und gearbeitet hat – dank eines kleinen, feinen, völlig unaufgeregten Autorenfilms, der sich 2021 als Bergman Island auf der Viennale eingeschlichen und vor allem damit beeindruckt hat, eine fast schon klassisch-romantische Liebesgeschichte mit der Kreativbeziehung eines Künstlerpaares zusammenzubringen. Dabei gelingen ihr zwei Ebenen, die fast schon metaphysisch miteinander verschmelzen. Ein Jahr später schickt Hanson-Løve statt Vicky Krieps und Tim Roth diesmal Lea Seydoux in ein fiktives Leben voller greifbarer, gelebter und wehmütiger Ereignisse, in welche abermals zwei Erzählebenen verflochten sind, die aber beide in ein Universum gehören, eng beieinander liegen und nur manchmal überlappen. Hinter An einem schönen Morgen steht ein klares Gespür für Timing; scheint es auf jede Minute, jede Sekunde anzukommen. All die Szenen scheinen klar definiert, Improvisation manchmal die doppelte Arbeit und daher vielleicht auch unerwünscht, denn Hanson-Løve kann der langen Rede kurzen Sinns nichts abgewinnen. Sie weiß genau, was sie erzählen muss und wie viel Kontext und wie viele Worte es maximal braucht, um niemals Gefahr zu laufen, ins Melodramatische zu kippen.

    Dabei wären für das Genre des französischen Problem- und Liebesfilms alle Grundlagen gegeben, um sich in intellektuellen Streitgesprächen, philosophischen Off-Kommentaren oder einer verregneten Pariser Tristesse zu verlieren. Nichts dergleichen scheint die Filmemacherin auf irgendeine Weise zu beglücken. Daher nimmt sie ihre Affinität für kurze, knappe, doch niemals fragmentarisch wirkende Szenen zum Anlass, die Stationen einer späten Verliebtheit mit einem leisen Requiem auf das Alter, der Erinnerung und dem Vergessen zu verbinden.

    Im Mittelpunkt steht die Tochter eines Philosophen, Sandra Kinsler, die ihrem Vater dabei zusehen muss, wie er einer neurodegenerativen Krankheit erliegt und immer tiefer in die Symptomatik des sogenannten Benson-Syndroms versinkt. Ähnlich wie Demenz, ist für den Erkrankten das Verarbeiten des Gesehenen gestört, und auch klar artikulieren, wie man gerne wollen würde, lässt sich längst nicht mehr. Daheim kann der Vater nicht mehr bleiben, er muss ins Pflegeheim. Das gestaltet sich als mühselige Odyssee, gleichzeitig muss Sandra damit klarkommen, das Vergangene als vergangen zu akzeptieren und lernen, von ihrem Vater langsam Lebewohl zu sagen. Obwohl Abschiede und Schlussstriche wie diese an Sandras Gemüt nagen, gibt es gleichermaßen auch einen erfrischenden Neuanfang: Ein alter Freund ist wieder in der Stadt, und was lange Jahre nie funktioniert hat, scheint diesmal von Amors Pfeilen getroffen: Beide verlieben sich ineinander. Das Problem nur: Liebhaber Clément ist verheiratet und hat einen Sohn. Wer muss also hier den Schlussstrich ziehen? Einer der beiden muss es tun.

    An einem schönen Morgen erinnert in den Szenen mit Pascal Greggory als verwirrtem Vater an Florian Zellers Alters-Opus The Father. Wie unterschiedlich sowohl Hopkins als auch Greggory die Defizite des Altwerdens im Geiste darstellen können, ist verblüffend. Während Hopkins erst spät erkennt, wie hilflos er eigentlich ist, scheint Greggory diese Erkenntnis gar nie kommen zu müssen. Das Vergessen und das Entfernen aus der Realität verlaufen in ruhiger, murmelnder, schlurfender Ziellosigkeit – grandios und völlig unprätentiös gespielt. Die Qual, die man als Außenstehender dabei hat, vermittelt Lea Seydoux ebenfalls auf den Punkt genau. Und trotz dieser Schwere des Schicksals ist der Film auch dank Seydoux‘ völlig unverkrampftem Spiel und Hanson-Løves gelassener Inszenierung impressionistisches Erzählkino ohne plakative Schwere geworden, mit elegant eingeflochtenen, klassischen Versatzstücken des Kinos, die mit dem Rest harmonisieren. Viel passieren muss in Hanson-Løves Filmes eigentlich nie, doch dieses Dahinschweben zwischen den Wendepunkten eines Lebens, das sonst ein Außenstehender gar nicht bemerken muss, weil diese sich selbst genügen, ist schon eine große Eigenheit ihres Stils, und macht sie auch geradezu unverwechselbar in ihrer Art, Anspruch und Tagtraum bewusst ent- und dahingleiten zu lassen.


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    18.02.2023
    16:26 Uhr
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    Zwischen Affären und Pflegeheimen

    Exklusiv für Uncut von der ViENNALE
    Die französische Regisseurin Mia Hansen-Løve kehrt nach dem großartigen, englischsprachigen „Bergman Island“ mit ihrem jüngsten Werk „An einem schönen Morgen“ („Un Beau Matin“) nun nach Frankreich zurück., Dabei, versammelt dabei sie einige Größen des französischen Kinos und auch inhaltlich könnte der erstmals in der Sektion „Quinzaine des réalisateurs“ bei den Filmfestspielen in Cannes präsentierte Film französischer fast nicht sein.

    Sandra (Léa Seydoux) lebt nach dem Tod ihres Mannes mit einer Tochter im Volksschulalter alleinerziehend und als Übersetzerin und Dolmetscherin arbeitend in Paris. Außer um ihre Tochter muss Sandra sich sich gemeinsam mit ihrer Mutter, ihrer Schwester und seiner neuen Partnerin auch um ihren dementen Vater Georg (Pascal Greggory) kümmern , und wird dabei von ihrer Mutter, ihrer Schwester und Georgs neuer Partnerin unterstützt., dessen Krankheit immer weiter fortschreitet. Während sie sich also auf dieder scheinbar endlosenendlose Suche nach einem angemessenen Pflegeheim begibt, verliebt sie sich in Clément (Melvil Poupaud), einen Freund ihres verstorbenen Ehemanns, der unglücklich verheiratet ist, und beginnt eine Affäre mit ihm.

    Es klingt alles sehr abgegriffen und voller Klischees: Die Protagonistin, die sich immer nur um die anderen kümmert (hier: ihre Tochter und ihren Vater), deren Job es sogar ist, zwischen zwei Parteien zu vermitteln und dabei möglichst unsichtbar zu bleiben, kümmert sich in Form einer Affäre jetzt endlich um sich selbst. Und ist in den vergangenen Jahren (etwa in Filmen wie „The Father“ oder „Vortex“) nicht schon so gut wie alles über Demenz gesagt worden? Vielleicht. Hansen-Løve und ihrer Hauptdarstellerin Seydoux gelingt es dennoch, mit einem nuancierten und gefühlvollen Blick den Kontrast zwischen der Trauer und Melancholie über den sich verschlechternden Zustands des Vaters und der freudigen Aufregung über die Liebe zu Clément darzustellen.

    Als ehemaliger Philosophieprofessor verfügt Georg in seiner großbürgerlichen Pariser Wohnung über eine umfassende Bibliothek, die schließlich aufgelöst werden muss. Einige seiner früheren Student*innen freuen sich über die Bücher, die Sandra ihnen überlässt. Sie ist glücklich, wenn ihr Vater durch seine Bücher so weiterleben kann, währen sich sein Zustand in den verschiedenen Pflegeheimen immer weiter verschlechtert und er sie immer seltener als seine Tochter erkennt. In diesen nachdenklichen, traurigen Momenten ist „An einem schönen Morgen“ ebenso überzeugend inszeniert wie in den aufregenden, romantischen, erotischen Szenen der Beziehung zu Clément. Er hat als Kosmochemiker, der Sternenstaub erforscht, wie er Sandras Tochter an einer Stelle erklärt, ein Leben, das mit seinen Exkursionen genauso abenteuerlich ist wie sich die Affäre mit ihm für Sandra anfühlt. Es ist ein Auf und Ab, erst läuft alles gut, später muss er sich entscheiden zwischen Sandra und seiner Ehefrau. Erst unternehmen sie als Familie zu dritt einen gemeinsamen Ausflug in den Park, bevor gleich darauf die Wirklichkeit über das Glück hereinbricht, wenn sie eine Freundin seiner Frau sehen und sich verstecken müssen.

    Es ist ein Film der kleinen Momente, die das Leben ausmachen. Zwischen Glück und Unglück, zwischen Regen und Sonne liegen oft nur wenige Momente und alles gehört irgendwie dazu. Nicht alle Probleme werden in „An einem schönen Morgen“ aufgelöst, nicht alle Konflikte zu Ende erzählt. Am Ende sehen wir einen weiteren dieser kleinen Momente, aber es könnte wohl genauso gut ein anderer sein.

    Mit „An einem schönen Morgen“ hat Mia Hansen-Løve einen Film geschaffen, der wohl nicht so sehr in Erinnerung bleiben wird wie der vor allem in seiner Konstruktion interessantere „Bergman Island“. Mit einem guten, vielleicht etwas melancholischen Gefühl verlässt man dennoch den Kinosaal. Das ist zum einen den humorvollen Beobachtungen des Zwischenmenschlichen geschuldet, die den Film ausmachen, und zum anderen einer starken Léa Seydoux, die in der Darstellung der unterschiedlichen Gefühlswelten von Sandra überzeugt.
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    11.11.2022
    23:15 Uhr