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    Die Wehmut am letzten Urlaubstag

    Mit Nominierungen und Preisen überhäuft, Kritikerlob da und Kritikerlob dort: Charlotte Wells, bisher maximal mit Kurzfilmen vertreten, die nur Insider kannten, hat mit ihrem allerersten Spielfilm bereits so viele Tore ins Filmbiz geöffnet, die andere sonst nur auf zähem Wege und vor allem mit Vitamin B aufbekämen. Keine Ahnung, wohin Wells es zukünftig verschlagen wird, oder ob man ihr, wie Chloë Zhao, ein Franchise unterjubelt, mit welchem sie nichts anfangen kann. Denn Aftersun ist ein Film, der nicht so danach aussieht, als würde seine Macherin dereinst mit Comic-Helden oder Aliens jonglieren wollen, sondern es lässt sich gut der Eindruck gewinnen, dass Künstlerinnen wie Wells sehr wohl schon ihren Themenkreis gefunden haben. Dessen Materie setzt sich zu Stimmungsbildern zusammen und eignet sich wohl weniger zur geradlinigen Story mit Twist und Showdown. Aftersun legt es aber mitnichten darauf an, sein Publikum zu verwirren oder auf falsche Fährten zu locken. Das wäre, wenn doch, lediglich des Effekts willen probiert. In diesem Film hier geht es um Erinnerungen und gemeinsam Erlebtes, auch wenn das Erlebte nicht aufgrund spektakulärer Begebenheiten unvergessen bleiben will. Die Wucht darin liegt in der familiären Wärme des Miteinanders, der vertrauten Dynamik zwischen Vater und Tochter, unter levantinischer Sommersonne und den gängigen Rhythmen eines Pauschalurlaubes, der nichts dem Zufall überlässt und in welchen sich Touristen wie Sophie (Frankie Corio in ihrer ersten Filmrolle) und Calum (Paul Mescal) fallen lassen können. Viel Schlaf, entspanntes Herumhängen und schickes, abendliches Dinieren. Dazwischen Sonnencreme, Müßiggang am Pool oder Baden im Meer kurz vor Sonnenuntergang. Wir alle wissen, wie sich sowas anfühlt. Wenn die Buchung des Hotels mal so stimmt, wie erwartet, sind Zeit und Alltag ausgehebelt, zählt nur noch das Jetzt ohne Tagescheck, und oft weiß man nicht, ob die Woche schon rum ist, so versunken scheint man zwischen Sand, Salz und Eiscreme. Und natürlich denken wir uns dann, dass wir irgendwann dortbleiben wollen. Aussteigen, auf diese Weise weiterleben. Daheim alles zurücklassend, weil die Ferne ruft. Tatsächlich lässt sich das auch von der All-inclusive-Bar denken und erträumen. Und nicht nur das. Die elfjährige Sophie und ihr Vater Calum wollen ebenfalls ewig in dieser Vater-Tochter-Konstellation verharren und in den heißen, angenehm ermüdenden Tag hineinleben. Doch irgendetwas, jenseits dieser idealen Kulisse, stimmt nicht.

    Denn Vater Calum dürfte für Sophie irgendwann später nur noch Geschichte gewesen sein, verknüpft mit der Erinnerung einer kurzen und zugleich zeitlosen All-Inclusive-Buchung, die sich für ewig als das Bild einer Zweisamkeit ins Gedächtnis der nun schon erwachsenen Sophie gebrannt hat, die eines Tages das selbstgedrehte und kuriose Handycam-Video hervorkramt und in der bittersüßen Stimmung von damals schwelgt. In ihren Gedanken aber befindet sie sich immer wieder auf einer in Stroboskoplicht getauchten, dich bevölkerten Tanzfläche, inmitten das Gesicht ihres Vaters. Oder doch nicht? Wo ist sie hin, die Vergangenheit? Wo ist sie hin, die immer abstrakter werdende und verfremdete Figur von Dad?

    Aftersun bietet auf den ersten Blick nicht mehr als aneinandergereihte, repetitive Momente eines Urlaubs. Auf den zweiten Blick versucht Charlotte Wells, das Narrativ einer mit Wehmut aufgeladenen Erinnerung in einem Alltagsfluchtort wie diesen festzumachen. Dabei bleibt sie vage und assoziativ, das Davor und das Danach verliert sich im Dunkeln eines Dancefloors. Was später passieren wird, soll durch seine Variabilität und Undefinierbarkeit dem Zuseher die Möglichkeit geben, sein eigenes Stück Familiengeschichte hineinzuinterpretieren. Aftersun ist ein subjektives Psychogramm, errichtet aus Beobachtungen innerhalb einer kurzen Zeitspanne der Eintracht. Natürlich wirkt das etwas dürftig, für Plot-Fetischisten womöglich zu wenig, die darauf warten, das etwas passiert. Passiert ist aber alles längst, nach der ersten Minute schon. Was wir hier haben, ist das rekapitulative Nachwehen von Vergangenem – intuitiv inszeniert, aber auch schwer erreichbar.

    Was in Aftersun bleibt, ist das Eingestehen der Tatsache, Zeit seines Lebens die Leere ertragen zu müssen, die auf vergangenes Glück folgt. Würde sich die Zeit zurückdrehen lassen, würde Sophie den besten Urlaub ihres Lebens niemals anders erleben wollen. Immer und immer wieder.

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    11.01.2023
    12:26 Uhr
  • Bewertung

    Trip down memory lane

    Exklusiv für Uncut
    Erinnerungen sind ein seltsames Gut: sie kommen und gehen, nehmen mit der Zeit eine andere Gestalt an oder bleiben manchmal bis ans Lebensende unvergessen. Welche Informationen und Erlebnisse das Hirn richtig abspeichert und welche verzerrt, das bleibt meist ein Rätsel. Selbstverständlich brennen sich prägsame Momente im Regalfall ins Langzeitgedächtnis ein, doch verformen sich selbst diese des Öfteren mit der eigenen Wahrnehmung und Erfahrung. Es ist fast so, als würden Erinnerungen ein Eigenleben führen, so unkontrolliert und zersplittert sie sich in unserem Kopf abspielen. Diese Fragmentierung, die der Natur der menschlichen Erinnerung obliegt, hat Regisseurin Charlotte Wells in ihrem Sensationsdebüt „Aftersun“ bemerkenswert zur filmischen Form verarbeitet.

    Inspiriert von eigenen Erfahrungen, blickt Wells in dem knapp 100-minütigen Drama auf einen Vater-Tochter-Urlaub zurück. Genau gesagt schwelgt Sophie, die wir in erwachsener Form nur blitzhaft zu Gesicht bekommen, kurz vor ihrem 30. Geburtstag in Erinnerungen an diese zwanzig Jahre zuvor geschehene Reise. Ende der 90er-Jahre unternahmen die damals 11-Jährige (Frankie Corio) und Papa Calum (Paul Mescal) einen Trip in ein türkisches Baderesort. Voller Neugierde erkundet das wissbegierige Mädchen die Umgebung, macht neue Bekanntschaften und wird von präpubertären Gefühlen heimgesucht. Ihr Vater liegt unterdessen spürbar mit sich selbst im Clynch: Calum versucht sein Bestes, um seiner Tochter ein sorgsames Vorbild zu sein, wird aber immer wieder von einer angedeuteten Depression überwältigt.

    Mittels verworrener Camcorder-Aufnahmen erinnert sich Protagonistin Sophie an den unvergesslichen Urlaub zurück, Lücken werden im Kopf zu einem flüssigen Ganzen zusammengeflickt. Wells lässt dem Publikum Teil an Sophies Gedankenwelt haben, in dem der Film zu weiten Teilen am kindlichen Blick der 11-jährigen Version der Protagonistin haftet. Doch in Wahrheit ist die kindliche Unschuld längst vorüber und wenig mehr als ein Schein, ein Trugbild, das nostalgisch an vermeintlich freudige Zeiten zurückblicken lässt, über die unbemerkt ein großer Schleier der Melancholie hing. So werden die fragmentiert ablaufenden Versatzstücke der Erinnerung andauernd von surreal anmutenden, hypnotisch aufbereiteten Clubszenen durchbrochen, die unausgesprochene Konflikte und potentielle Traumata suggerieren. Beeindruckend ist zudem, wie man sich hier einer Vielzahl an Pop-Hymnen á la „Losing My Religion“, „The Tide is High“ oder als emotionales Kernstück „Under Pressure“ bediente, um Gefühlslagen der beiden Hauptfiguren kraftvoll zu transportieren. Abseits der raffinierten und dem emotional intelligenten Drehbuch sind es aber die zwei famosen Hauptdarsteller*innen, die das europäische Badeort-Flair mit Leben und Temperament füllen. Newcomerin Frankie Corio verzückt mit einer der glaubwürdigsten Kinderdarstellungen der letzten Jahre, Paul Mescal dürfte sich für seine voller roher Emotion geladene Darbietung eventuell sogar in die Herzen der Oscar-Wähler*innen spielen.

    „Aftersun“ fordert das Publikum auf, zwischen den Zeilen zu lesen: vieles wird lediglich andeutet und die Deutungshoheit schließlich dem Zuschauer überlassen. Trotz oder genau wegen der experimentellen, collagehaften Form erweist sich das Drama nämlich als rührendes, bildgewaltiges und lebhaftes Kinoerlebnis, das mit Sicherheit nicht so bald aus dem Gedächtnis schwinden wird.
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    09.01.2023
    17:00 Uhr
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    Homevideo-Nostalgie im Cluburlaub mit Daddy Cool

    Charlotte Wells präsentiert mit „Aftersun“ nach mehreren Kurzfilmen ihr Langfilmdebüt. Das gelungene Ergebnis feierte bei den Filmfestspielen in Cannes seine Premiere.

    Sophie, Anfang 30, blickt anhand von alten Camcorder-Aufnahmen auf einen gemeinsamen Urlaub mit ihrem Vater Calum zurück. Dieser Clubaufenthalt in der Türkei war eine der wenigen Gelegenheiten gemeinsam Zeit miteinander zu verbringen, da Sophies Eltern getrennt leben. Für die damals 11-Jährige ist es ein Abenteuer, das sie mit ihrer Kamera einfängt. Nicht nur die Vater-Tochter-Zeit, sondern auch die anderen jungen Urlauber*innen führen das Mädchen in diesem Sommer auf ihren Weg Richtung Erwachsenwerden.

    Wells schickt das Vater-Tochter-Gespann auf eine Urlaubsreise, die denkbar schlecht beginnt. Calum (Paul Mescal, „Normal People“) kann sich nur das günstige Paket leisten und die Buchung geht komplett schief: Die beiden bekommen ein Zimmer mit Doppelbett. Ein leises Unbehagen ob dieser unfreiwilligen Intimität macht sich breit. Allerdings lässt sich die Zimmersituation nicht ändern. Dieser dramaturgische Kunstgriff, der Enge und Nähe spürbar macht, unterstützt die emotionale Dringlichkeit der Gespräche zwischen Calum und seiner Tochter Sophie (Frankie Corio). Diese Atmosphäre wird ebenso mit den Bildern der Filmkamera verdeutlicht, die nah bei den Figuren bleibt. Manchmal wird die Intimität mit dem Einsatz von unperfekten Bildern des Camcorders, den Sophie einsetzt, gesteigert: Homevideos als Dokumentation und Erinnerung an die gemeinsame Zeit.
    In diesen intimen Momenten kommt das Zusammenspiel von Mescal und Corio besonders gut zur Geltung. Corio lässt Sophie gekonnt zwischen kindlicher Naivität und erwachsener Klugheit pendeln, wenn sie mit ihrem Vater über die Trennung der Eltern, die Wohnsituation oder das liebe Geld spricht. Mescal legt seine Vaterfigur vielschichtig an. Er möchte der Tochter, die er lange nicht mehr sehen wird, etwas bieten. Er möchte sich um sie kümmern, ihr unvergessliche Momente schenken, sie unterstützen und bestärken. Manchmal ist er damit allerdings überfordert, da er mit eigenen Dämonen kämpft.

    Und Sophie? Ständig beim Papa herumhängen ist für ein 11-jähriges Mädchen sicher nicht der Traumurlaub. Da trifft es sich gut, dass auch andere Familie ihren Urlaub im Club verbringen. Calum versucht, Sophie Kontakte zu anderen Kindern zu ermöglichen. Gemeinsam mit ihr fordert der gutaussehende Jungpapa etwa zwei angeberische Bubis, die etwas älter als seine Tochter sind, zum Billiard-Duell auf – ein Highlight des Films, voller Humor. Sophie kommt so zu einer ganzen Clique an Jungs and Mädels, die sie bei ihren Aktivitäten mitmachen lassen. Ganz passt Sophie allerdings doch nicht zu ihnen, denn wenn die anderen im Wasser herumknutschen oder sich dem Alkohol widmen, fühlt sie sich nicht ganz wohl. Mehr Spaß macht ihr ein Motorradspiel, bei dem sie einen etwa gleichaltrigen Jungen trifft, mit dem sich Wettrennen liefert, wenn genug Kleingeld für das Arcade-Spiel vorhanden ist. Vor allem die Szenen mit der Jugend-Clique sind meist etwas klischeehaft und beliebig. Sie nehmen der Handlung etwas Spannung und Schärfe im Hinblick auf Beziehungen. Etwas dick trägt Wells gegen Ende auch in Sophies Abenteuern mit dem gleichaltrigen Jungen auf.

    Das typische Cluburlaubs-Feeling sorgt für Nostalgie, Fremdschämen ob der für so manche peinlichen Shows der Animateur*innen und für jede Menge Unterhaltung. Vielleicht wecken die Bilder von Vorführungen, tollem Essen und Karaoke ja sogar eigene Erinnerungen an ähnliche Urlaube. Mit viel Liebe zum Detail wird auch die Klassentrennung im Club verdeutlicht. Einige andere Gäste, darunter die Jugendlichen, tragen All-Inclusive-Armbänder. Ihre Eltern konnten sich das teure Urlaubspaket leisten; Calum und seine Tochter nicht.

    Papa ist einfach peinlich! Das findet Sophie, wenn ihr Vater seine Tanz-Moves auspackt, sich dem Rhythmus hingibt und dabei glücklicher wirkt als in den meisten anderen Momenten. Ob die Tanzkünste von Calum wirklich so schlecht sind, darüber lässt sich wahrscheinlich streiten. „Aftersun“ zeigt aber, dass Sophie und ihr Vater im Urlaub zusammenfinden und die gemeinsame Zeit schätzen. So peinlich ist Papa nämlich gar nicht, auch wenn ihm nicht alles gelingt.

    In den besten Momenten vermag „Aftersun“ emotionale Tiefe und Intimität zwischen Vater und Tochter zu erreichen. Getragen von einem fabelhaften Paar in den Hauptrollen, ist Wells‘ Film ein unterhaltsamer, manchmal nachdenklicher Blick auf familiäre Beziehungen, den Weg zum Erwachsenwerden und das Milieu im Cluburlaub. Dank der 1990er Ästhetik und den Camcorder-Bildern ist es auch eine nostalgische Reise – vielleicht zurück zu Sommerurlauben und in die eigene Kindheit.
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    05.11.2022
    11:53 Uhr