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    Lasset die Kinder zu mir kommen

    Es wundert mich nicht, dass Ulrich Seidl mit dem Thema seines neuen Films und dessen Umsetzung in Rumänien auf Entrüstung stieß. Es ist schon gewaltig schwierig, sich mit Pädophilie in einem Film auseinanderzusetzen – wie schwierig kann es dann sein, all den Erziehungsberechtigten der für den Film gecasteten Kinder die höchst heiklen Umstände entsprechend zu verklickern. Es kann aber auch sein, dass Seidl wirklich etwas zu viel wollte. Zu viel Reality, zu viel Konfrontation. Zu viele echte Emotionen. Ich frage mich, wie Adrian Goiginger den jungen Jeremy Miliker dazu gebracht hat, so dermaßen die Klaviatur verzweifelter Gefühle zu bedienen, die sich in seinem Familiendrama Die beste aller Welten nicht nur mit Tränen, aber auch, Bahn brachen. Der Unterschied liegt darin, dass Miliker eben kein Laiendarsteller war, der einfach so von der Straße weg engagiert wurde. Bei Seidl dürfte das anders gewesen sein. Doch so genau weiß man das nicht. Der Spiegel veröffentlichte das eine, Profil das andere, der Falter behauptete wiederum das Gegenteil.

    Es stimmt schon – es gibt die eine oder andere Szene, die eventuell – ohne den nötigen Kontext – durchaus verstörend wirken könnte auf Kinder, die einfach nur gerne vor der Kamera stehen wollen. Schlimmer als so manche Szenen in vielen anderen Filmen, in denen Kinder (mitunter im Horror-Genre) ihre Rollen spielen, sind sie aber nicht, wobei es immer darauf ankommt, wie gut Minderjährige gecoacht werden. Meine Einschätzung: Kann sein, dass so mancher Vormund wirklich nicht so genau gewusst hat (oder wissen wollte), was da abgeht. Letztendlich zeigt Sparta nichts, was kompromittierend sein könnte. Es sei denn, man will sich mit Pädophilie, dieser destruktiven sexuellen Störung, einfach nicht auseinandersetzen. Im Grunde wollte ich das auch nicht. Allein schon, weil in Bezug auf die Entstehung dieses Films Aussage gegen Aussage steht. Da ich aber kein Interesse daran hatte, jemanden vorzuverurteilen, dachte ich mir, mache ich mir selbst ein Bild.

    Seidls Film ist der zweite Teil eines Diptychons, das unter dem Titel Böse Spiele an manchen Festivals im Doppelpack gezeigt wurde, gemeinsam mit der Tragikomödie Rimini, welche von der Zeit nach dem Ruhm eines Schlagersängers namens Richie Bravo erzählt, dargestellt von Michael Thomas, der einen Bruder hat – nämlich Ewald. Dieser Ewald, gespielt von Georg Friedrich, ist der Protagonist von Sparta. Beide haben den in einem geriatrischen Pflegeheim dahindämmernden Vater gemeinsam (Hans-Michael Rehberg in seiner letzten Rolle, dessen Aufnahmen bereits 2017, kurz vor seinem Ableben, entstanden sind). Dieser Alte, ein ewiger Nazi, tritt in haargenau dieselben Szenen in beiden Filmen auf – sie sind das Bindeglied und die entsprechenden Intermezzi, die beide Werke in zeitlich auseinanderliegende Kapitel unterteilen.

    Die Bedeutung des gebrechlichen Altnazis mit Rollator mag sich mit Ausnahme dessen, eben der Vater der beiden zu sein, nicht so richtig erschließen und wirkt mitunter etwas willkürlich eingesetzt. Abgesehen davon aber gelingt Seidl etwas, was ich ihm gar nicht zugetraut hätte: die behutsame, fast schon zärtliche Betrachtung eines Dilemmas. Sein langsam erzähltes, konzentriertes Psychogramm in wie immer akkurat arrangierten Bildern überzeugt durch eine gesellschaftskritische Meta-Ebene, die den psychischen Schaden eines Mannes einem anscheinend „gesunden“ patriarchalischen Menschen- und Erziehungsverstand gegenüberstellt. Letzterer ist praktisch nicht vorhanden. Was bleibt, ist die ambivalente Grauzone eines Kompromisses – oder die Chance, mit einer verhassten Veranlagung leben zu lernen und das Bestmögliche daraus zu lukrieren, zum Vorteil für die Kleinen.

    Georg Friedrich ist für diese Rolle phänomenal gut geeignet. Sein Markenzeichen ist schließlich jenes des breiten Wiener Slangs, das so klingt, als wäre der alte Hase des österreichischen Films immer noch lieber ein Laiendarsteller, der tatsächlich erlebt, was er spielt und nicht spielt, was er erlebt. Anfangs mag das unfreiwillig komisch wirken, doch Friedrich ist eben Friedrich – und liefert im Laufe des Films eine fast nur in brüchigem Rumänisch gehaltene Performance ab, die durch Seidls fokussierte Regie vorurteilsfrei und glaubhaft bleibt. Sein innerer Kampf ist großes Schauspielkino, die Interaktion mit den Kindern voller Zuneigung, stets respektvoll und nie einen Schritt zu weit. Sparta ist ein Balanceakt, und er hält sich bis zuletzt in beeindruckendem Gleichgewicht, ohne Friedrich zum Täter und die Kinder zu Opfern werden zu lassen. Wenngleich sie von vornherein schon welche sind – nämlich die ihres eigenen sozialen Umfelds.


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    28.05.2023
    12:07 Uhr
  • Bewertung

    Sparta

    Rimini. Dreharbeiten. Vorwürfe. Skandal. Ulrich Seidl. Georg Friedrich. Rumänien. Kinder. Sparta.
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    14.05.2023
    21:16 Uhr
  • Bewertung

    Das Leben ist (k)ein Kinderspiel

    Exklusiv für Uncut von der ViENNALE
    Ulrich Seidl ist gewiss kein Unbekannter, wenn es um Skandale geht. Das gleichermaßen geschätzte und verhasste österreichische Enfant terrible stand bereits 2014 im Kreuzfeuer der Kritik, nachdem er für seine Doku „Im Keller“ das Interieur eines Nazikellers unkritisch mit der Kamera begleitet hatte. Doch eine mediale Schelte dieser Form war selbst für den Provokateur ein Novum: im Spätsommer 2022 kursierten Berichte im Netz, denen zu Folge bei den in Rumänien erfolgten Dreharbeiten zu Seidls neuem Spielfilm „Sparta“ Kinderschutzgesetze nicht strikt genug befolgt wurden. Die Tatsache, dass der Film vordergründig einem Charakter mit pädophiler Störung folgen würde und dies den Laiendarstellern angeblich nicht ausreichend kommuniziert wurde, ließ nur umso mehr Alarmglocken losgehen. Seidl und sein Team haben die Vorwürfe mittels elendslanger Textblöcke vermehrt zurückgewiesen. Welcher Seite man nun Glauben schenken soll? Das muss jeder Zusehende für sich selbst entscheiden. Fern von dem ganzen Medientrubel ist Seidl hier aber allemal ein erneut eindringliches und von schmerzhaftem Hyperrealismus durchdrungenes Charakterporträt geglückt.

    Die spirituelle Fortsetzung zu Seidls „Rimini“, der sich mittels ungewohnter Warmherzigkeit dem abgehalfterten Schlagerbarden Richie Bravo widmete, rückt Bravos eigenen Bruder Ewald (Georg Friedrich) ins Zentrum. Dieser ist seit einiger Zeit in Rumänien beheimatet, hat dort einen ordentlich bezahlten Job und ist verheiratet. Doch dann verlässt der Mittvierziger mir nichts, dir nichts seine Frau und begibt sich in ein anderes rumänisches Dorf. Dort angekommen, entdeckt er ein verlassenes Schulgebäude, das er zur abenteuerlichen Judoschule für junge Buben umfunktioniert. Ewald trägt aber ein düsteres Geheimnis mit sich, dessen unbequeme Wahrheit erst durch Implikationen ans Licht kommt: er hegt pädophile Neigungen.

    Die Grundthematik alleine dürfte genügen, um Seidls neuestes Machwerk auch abseits der real geschehenen (oder nicht geschehenen) Skandale zum großen Streitthema zu machen. Dabei lässt sich ein gewisser plakativer Schockfaktor, der häufig Seidls Frühwerk nachgesagt wurde, hier weitgehend nicht vorfinden. Das soll nicht heißen, dass der Film seine Thematik mit Samthandschuhen anfasst. Im Gegenteil: in gewohnter Manier lässt Seidl die Kamera dort laufen, wo andere Regisseur*innen längst schon „Schnitt!“ gerufen hätten. Das ist bisweilen schockierend, obszön, ein paar Male sogar grenzwertig, aber nie auf eine plump provokante Weise. Die gefährliche Falle des „misery porn“ konnte auch hier geschickt umgangen werden, in dem all der jämmerlichen Tristesse eine grundlegende Zutat beigefügt wurde, die auch schon in „Rimini“ den menschenverachtenden Nihilismus im Zaum hielt: Menschlichkeit. Anstatt die fragliche Hauptfigur stereotyp auf ein Monster zu reduzieren, akzentuiert Seidl die innere Zerrissenheit Ewalds. Ein emotionaler Zusammenbruch im Auto, ein intimes Gespräch mit dem entfremdeten Nazi-Vater, ein krankhaftes Rückbesinnen auf kindliche Werte: der großartige Georg Friedrich legt diesen in anderen Händen ganz und gar hassenswert aufgenommenen Charakter als zwar bemitleidenswerten, aber vollwertigen Menschen fern jeglicher Horror-Karikatur an. Und dieser ohnehin schwer anzusehende Tumult, den Ewald mit sich selbst auszubaden hat, gestaltet die unentrinnbare Abwärtsspirale, in die er sich hineingräbt, umso härter mit anzusehen. Dass Seidl trotz aller Dinge vor bitteren Realitäten nicht die Augen schließt, zeichnet sein Schaffen aus. Dennoch schwingt gegen Ende ein dezenter Optimismus mit, der das Gute im Menschen noch nicht gänzlich aufgegeben hat. Das ist alles selbstverständlich fern von einem Happy-End, fern von fantasievollen Scheinwelten, aber … auf eine perfide Weise: dennoch hoffnungsvoll? Seidl hat im Herbst seiner Karriere noch seine zärtliche Ader als Filmemacher entdeckt. Und diese kann im ähnlichen Ausmaß schmerzvoll wie wohltuend sein.
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    12.02.2023
    13:24 Uhr