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15 Bewertungen
80.3% Bewertung
  • Bewertung

    Der Film des Jahres 2023

    Schon auf der Berlinale 2023 begeistert zweimal gesehen, eine herausragende Kate Blanchet, vorzügliche weitere Darsteller, sehr gutes Drehbuch, brillante Dialoge. Mehr kann man nicht erwarten.
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    28.12.2023
    15:02 Uhr
  • Bewertung

    Eine Komposition über Hybris und Machtmissbrauch

    Beinahe dokumentarisch beginnt der Film mit einem Interview mit der Protagonistin, der Weltklasse-Dirigentin Lydia Tár. Die Geschichte wird derart glaubhaft vermittelt, dass man sich immer wieder fragt, ob diese auf wahren Begebenheiten basiert. So bekommt man im Laufe des Films nicht nur Einblick in die Tätigkeiten und überaus spannenden Sichtweisen einer Dirigentin, es entfaltet sich mit zunehmender Intensität auch ihre Persönlichkeit. Trotz Überlänge gewinnt der Film mit der Zeit immer mehr an Tempo, bis am Ende die Ereignisse nur mehr bruchstückhaft erzählt werden. Was zuletzt irritierend erscheinen mag, fügt sich wunderbar stimmig in den Lauf der Geschichte und der Persönlichkeit der Protagonistin ein. Während man anfangs den dokumentarisch-distanzierten Blick auf die Dirigentin erhält, kommt der Betrachter im Laufe des Filmes der Person Tár immer näher, bis man sich am Ende völlig verstrickt in deren Persönlichkeitsstruktur findet.
    Eine gut komponierte Erzählung über Hybris und Machtmissbrauch, die gerade durch die inszenierte Realitätsnähe gekonnt Themen der #MeToo-Bewegung als auch der Cancel Culture anzusprechen vermag. Ganz besonders in Erinnerung bleibt die Auseinandersetzung der Dirigentin mit einem jungen Studenten, dem es als BIPoC schwerfällt, sich mit der Musik Bachs, den er als misogynen cis-Mann bezeichnet, auseinanderzusetzen. Die Dirigentin macht sich dabei in überaus eloquenter Weise über die Einstellung des Studenten lustig.
    Der Film entzieht sich dabei der Verlockung eine moralische Position zu beziehen und bewegt sich auch deshalb wunderbar nahe an der Person Tár. Umso gelungener erscheint in diesem Zusammenhang auch die Wahl der weiblichen Hauptrolle.
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    16.03.2023
    07:54 Uhr
  • Bewertung

    Aus dem Takt geraten

    Wann geht’s denn endlich los? Eine Frage, die sich nach einer gefühlten halben Stunde Podiumsdiskussion mit Cate Blanchett als Dirigentin Lydia Tár durchaus stellen lässt. Wir haben das nach Abspann aussehende Intro gesehen und folgen nun fachkundigen Fragen, die mit Sicherheit das musikaffine Publikum, insbesondere für Klassik, interessieren wird. Mahler hin, Mahler her, es fallen diverse Namen wie Claudio Abbado, Karajan, Bernstein und Furtwängler. Die Virtuosin zeigt sich gesprächsbereit und engagiert. Ist freundlich, aber bestimmt. Ein Star der Musikszene eben. Ganz oben am Zenit des Schaffens, inklusive Autobiographie und allen wichtigen Preisen, die man nur so abräumen kann – so jemand nennt sich EGOT. Tár ist ein Mensch, der sich dadurch definiert, für die Kunst zu leben und Teil der Kunst zu sein. Über eine halbe Existenz hinweg errichtet sie ihr eigenes strenges, prinzipientreues, fast schon dogmatisches Königreich. Genau so geht klassischer Ruhm.

    Nach dem Abarbeiten von Társ künstlerischem Lebenslauf und Verweisen zu möglichen Vorbildern geht Todd Fields Beobachtung ihres Alltags weiter. Und langsam formt sich der Charakter einer selbstbewussten Größe, die ihrem streng durchgetakteten Terminkalender folgt, den ihre persönliche Assistentin Francesca (Noémie Merlant, grandios in Portrait einer jungen Frau in Flammen) schon im Schlaf herunterrasseln kann. Ohne Francesca wäre Tár selbstredend aufgeschmissen, doch im Idealfall soll sich ein Künstler nur auf seine Kunst konzentrieren. Vergessen darf er dabei nicht, auch sozial integer zu bleiben. Tár versucht es, was sich manchmal besser, manchmal schwieriger gestaltet. Es sind die Opfer, die eine Weltberühmtheit bringen muss – es ist der Fokus auf das Perfektionieren schwieriger Stücke vorzugsweise von Mahler oder Beethoven. Das Ensemble des Orchesters ist da nur Werkzeug. Ein liebgewonnenes Werkzeug. Und Tár tut, was sie kann. Vermeidet eklige Arroganz, vergisst manchmal, die ihr zu Diensten Stehenden entsprechend zu würdigen, hat nur das Ziel der Vollendung ihres Schaffens im Blick. Wer sich darauf einlässt, muss scheinbar wissen, wie so jemand tickt.

    Und dann passiert das, was Promis manchmal passiert: Tár gerät in Misskredit. Zu Recht oder nicht, wen juckt das schon. Jedenfalls gerät ihre Welt aus den Fugen, nachdem Tár beschuldigt wird, mit dem Suizid einer ehemaligen Musikerin aus ihrem Mentoring-Programm Accordion Fellowships etwas zu tun zu haben. Sexuelle Ausbeutung? Machtmissbrauch? Alles nur Vermutungen, Andeutungen und vage What if-Konstrukte, denen sich Tár nun ausgesetzt sieht. Mit diesem Dilemma unterliegt bald auch ihre Wahrnehmung einer Verzerrung, die Wirklichkeit hat kaum mehr gute Erklärungen parat. Ihr soziales Umfeld zeigt ihr die kalte Schulter, Mentoren und Kollegen üben sich im Schuldspruch aufgrund eines Verdachts, der sich niemals erhärtet. Klar ist der Stern Társ daraufhin auf Sinkflug. Doch eine, die schon alles gehabt hat, muss sich nicht zwingend an einen Zustand klammern, der längst in einen Erfolgstrott verfallen ist.

    Der für 6 Oscars nominierte Streifen und nach Little Children Todd Fields erste Regiearbeit nach 16 Jahren ist Arthouse-Kino, welches sich in seiner eigenen Themenwolke – nämlich in der Welt der Klassik und jener, die sie interpretieren – zu sehr bequem macht, um heraustreten zu wollen. Der Schritt in ein anderes Genre als das des Künstlerdramas ist zu zögerlich, um ihn letztendlich getan zu haben. Das Schauspiel von Cate Blanchett hätte es wohl nicht verändert, denn sie genügt sich und dem Publikum vollkommen. Es gelingt ihr, eine Figur mit Biografie zu erschaffen, und noch dazu eine, die man weder verurteilen noch anhimmeln kann – bewundern vielleicht schon, ob ihres Könnens und ihrer Tatkraft. Zu so einer Figur gehören Manierismen und Verhaltensweisen, die aber nichts Pathologisches an sich haben und später auch nicht haben werden. Nehmen wir mal Natalie Portman in Black Swan. Darren Aronofsky hat da viel energischer mit anderen Genres kokettiert, sein Ballettthriller wurde zum polanski’schen Horror, Portman zur Furie. Tár mag zwar auch manchmal austicken, doch richtig manisch wird sie nie. Insofern bleibt Todd mit seiner Halbgöttin im Hosenanzug auf dem Boden, schickt sie vielleicht manchmal durch entrische Gänge, die im Dunklen liegen, will sie aber letztendlich nirgendwo einordnen. Weder als Soziopathin noch als Opfer des Ruhms. Was zur Folge hat, dass bis auf Blanchetts Figur alle anderen Charaktere schemenhaft herumspuken. Genauso vage bleibt die mysteriöse Vergangenheit einer Dreiecksbeziehung und der Stein des Anstoßes, der Problemfall selbst, um welchen sich Társ Schicksal rankt. Reduziert auf Erwähnungen im Gespräch, die man leicht überhören kann, bleibt der Kern des Plots zu volatil, um jene Gewichtigkeit zu erlangen, die er hätte haben sollen. Tár als Film gefällt sich zu sehr in seiner Fachsimpelei und verlässt sich fast ausschließlich auf den Inhalt seiner Dialoge. Todd widersteht dem Versuch, Társ Charakter aus ihrer Reaktion auf die Umstände zu zeichnen, sondern formt sie bereits außerhalb der Geschichte, was dieser viel zu viel Zeit abringt. Das, was interessant ist, kommt als beiläufige Andeutung eines möglichen Skandals zu kurz. Obwohl überall hoch gelobt, empfinde ich Tár als ein Werk, das sich in seinen Prioritäten verpeilt.


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    03.03.2023
    17:01 Uhr
  • Bewertung

    Macht, Missbrauch und Maestro

    Exklusiv für Uncut von der Berlinale 2023
    Woody Allen, Joanne K. Rowling, Roman Polanski, Ulrich Seidl. Von mindestens diskutabel bis zu höchst problematisch und nachgewiesen – all diesen an großartigen Werken beteiligten Personen sind kontroverse Handlungen und Aussagen gemein. Damit stehen sie sinnbildlich für die ewig schwerwiegende Frage, ob Künstler:innen mit ihren Ansichten und Ausrichtungen von ihrem Schaffen zu trennen sind. Können Harry-Potter-Inhalte konsumiert werden, ohne die transfeindlichen Aussagen Joanne K. Rowlings im Hinterkopf zu haben? Stören die Missbrauchsvorwürfe gegen Woody Allen beim Anschauen des Klassikers „Der Stadtneurotiker“?

    Dieser brandaktuellen Thematik widmet sich das psychologische Drama „Tár“ von Todd Field, dessen erste Regiearbeit seit 2006. Wir folgen dem Orchester des Lebens der namensgebenden Titelfigur Lydia Tár, eine der weltbesten (fiktiven) Dirigentinnen, und ihrem Treiben zwischen Podiumsdebatten, Seminaren, dem Familienleben (Nina Hoss spielt ihre Lebensgefährtin bravourös) und dem Aufbau ihres Orchesters. Während alteingesessene Kapellmeister vor der Entlassung stehen und die Assistentin sich endlich den Karrieresprung erhofft, wird die Cello-Stelle neu besetzt und Lydia mit Folgen sexuellen Machtmissbrauchs aus früherer Orchesterzusammensetzung konfrontiert.

    Fast schon dokumentarisch, mehrfach verglichen mit Michael Haneke, präsentiert uns Todd Field die Upper Class mit hygienischer Bildsprache und sachlich-formellem Szenenbild, u.a. gedreht in der Dresdner Philharmonie. Ästhetisch gilt die Wertschätzung insbesondere dem deutschen Kameramann Florian Hoffmeister. Dem Stil geschuldet bleiben einige Figuren, insbesondere Lydia, vermehrt kalt und distanziert. Einerseits eine Zurschaustellung des kontemplativen Perfektionismus, in dem die reine berufliche Freude hintenansteht und keine Fehler geduldet werden, andererseits fällt die Identifikation mit unsympathisch-narzisstischen Figuren nicht leicht. Eindringlich und überwältigend porträtiert Cate Blanchett die Dirigentin. Dass sie sich seit langem als eine der profiliertesten Charakterdarstellerinnen etabliert hat, ist kein Geheimnis; ihre Klaviatur der hochmütig-selbstbewussten Lydia stellt viel in den Schatten. Ihr Mitwirken war laut Field notwendige Bedingung für die Produktion des Films, sie lernte Piano, Dirigieren und nicht zuletzt Deutsch für ihre Rolle.

    Beispielhaft für Stil des Films und Lydias fast tyrannischen Charakter steht ein Dialog im ersten Filmdrittel, in dem sie sich gegen die Ablehnung eines jungen BIPoC stellt, sich mit Johann Sebastian Bach auseinanderzusetzen. Sie wehrt sich gegen die Vermengung der Identität Bachs mit seinem Wirken und betreibt Täter-Opfer-Umkehr, denunziert ihr Gegenüber: „The architecture of your soul seems to be social media“. Der Film verurteilt diese Ignoranz identitätspolitischer Inhalte, indem der junge Schüler entgegen dem Konformitätsdruck den Raum verlässt. Diese bemerkenswerte Szene wurde in einem Take gedreht.

    Begeben wir uns zu Filmbeginn mit Lydia taktsicher in die Öffentlichkeit, wohnen Restaurantbesuchen und Interviews in langen, prätentiösen Dialogen bei, tauchen wir mit zunehmenden Spieldauer ins Private ab. Dann zentriert sich die Handlung um Lydias Innerlichkeit und hinterfragt nicht nur ihre Integrität. Der anfangs von ihr propagierten Trennung zwischen Künstler:in und Werk stehen ihre persönlichen Neigungen, ihre subjektiven Favorisierungen entgegen. Sie hat ihre „Little Favors“, was gezeigt wird, wenn eine Audition hinter einer undurchsichtigen Fassade durchgeführt wird, am Ende jedoch die Schuhe einer teilnehmenden Musikerin kurz aufblitzen und Lydia eine Notiz wegen dieses optischen Eindrucks durchstreicht. Zerrissen ist der Schein der Objektivität. Der Film besticht durch Klarheit und Prägnanz in genau diesen Sequenzen – und dekonstruiert sich unmittelbar selbst. Wohldosierte Kontrapunkte zum Dokumentarstil, kurze verfremdete Ausflüge voller Paranoia und Wahnvorstellungen holen den systemischen Machtmissbrauch aus der Vergangenheit in die Gegenwart und dringen tief in Lydias psychische Labilität. Aus einem straff organisierten werden mehrere lose Handlungsfäden voller Manie, umgesetzt durch Parallelmontagen und veränderte Schnittrhythmen, eine hervorragende Arbeit der österreichischen Editorin Monika Willi. Auffallend häufige Spiegelbilder, intensive Close-Ups sowie die schwarz-weiße Farbgebung demonstrieren das Thema der Identität, der Rollen zwischen Privatheit und Öffentlichkeit. Dass Lydia sich als homosexuelle Frau in dieser maskulinen Welt behauptet hat, bietet Anstoß zu weiteren Diskursen.

    „Tàr“ ist nüchterne Dramatik, ein präzises, kühles Psychogramm, zugleich unnahbar und doch intim. Die zunächst der Authentizität verpflichtete Geschichte über westlich-elitären Kulturbetrieb öffnet sich dank präziser Inszenierung mit intelligentem Buch, ausblendenden Schnitten und auslassender Kamera vielfältigen Interpretationsmöglichkeiten und zeigt die gnadenlosen Takte eines verfolgten Unterbewusstseins. Blanchett trägt die Last des zentralen Konflikts um die Trennung zwischen Künstler:in und Werk meisterhaft auf ihren Schultern, eine beeindruckende Leistung in einem cineastisch wertvoll komponierten Film, der jedoch wegen seiner markanten Figuren vermutlich Schwierigkeiten hat, beim großen Publikum Anklang zu finden.
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    24.02.2023
    09:00 Uhr