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    Diplomatische Gespräche

    Exklusiv für Uncut von der ViENNALE
    Albert Serra ist bekannt für seine unkonventionellen Filme, die meistens nicht nur eine sehr lange Laufzeit aufweisen, sondern auch ihr Publikum weitestgehend fordern. Nach Historienverfilmungen wie „Liberté“ (2019) oder „Der Tod von Ludwig dem XIV.“ (2016) hat sich der spanische Regisseur nun einem neuen Genre zugewandt: mit „Pacifiction“ erschafft er einen mysteriösen Inselthriller, in dem sich ein geschäftig wirkender Benoît Magimel, stets mit weißem Anzug ausgestattet, auf seinen zahlreichen Rundgängen durch Französisch-Polynesien befindet. Für den Film erhielt Serra seine erste Einladung zum Wettbewerb um die Goldene Palme in Cannes.

    Der französische Hochkommissar De Roller (Benoît Magimel) ist ein gern gesehener Gast in den Nachtclubs Tahitis. Hier versucht er unter anderem seine politischen Beziehungen zu stärken, die er tagsüber bei unzähligen diplomatischen Verhandlungen mit den Einwohner*innen der Insel zu festigen versucht. So steht beispielsweise der Bau eines Casinos kurz bevor, an dessen Verhandlungen auch De Roller beteiligt ist. Doch dann sorgt die Sichtung eines U-Bootes für helle Aufregung. Schon bald gehen Gerüchte rund um erneute Atomtestungen herum.

    Der geschichtliche Hintergrund sei kurz zusammengefasst: Von 1966 bis 1996 führte Frankreich auf Französisch-Polynesien zahlreiche Nukleartestungen durch, die gravierende Folgen für die Umwelt der Inselgruppen sowie deren Bewohner*innen hatten. Die tatsächliche Strahlenbelastung, die dabei zum Einsatz kam, wurde lange Zeit geheim gehalten, bevor der französische Staat 2018 in Den Haag wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verklagt wurde. Die Atomtestungen stellen also einen wunden Punkt in der Landesgeschichte Französisch-Polynesiens dar, die ohnehin stark durch den Kolonialismus geprägt war. Trotzdem meint Albert Serra beim Publikumsgespräch im Zuge der Viennale, dass es ihm in „Pacifiction“ weder um Kritik an den Nukleartestungen noch um Kritik am Kolonialismus ging – zwei Ereignisse, die aber nichtsdestotrotz deutliche Spuren an den Inselgebieten hinterlassen haben und auch im Film immer wieder betont werden. Schnell fragt man sich deshalb: worum ging es dem Regisseur dann?

    Diese Frage soll sich bis zum Ende des Films nie wirklich aufklären. Man wird Zeuge von folkloristischen Tänzen, von Hahnenkämpfen und von freizügigen Abendunterhaltungen in Nachtclubs. Magimels De Roller diskutiert mit Politikfrischling Mahati (Mahati Pambrun) und flirtet mit der Hotel-Rezeptionistin Shanna (Pahoa Mahagafanau). Ein diplomatischer Pass geht verloren, ein U-Boot gesichtet und Prosituierte werden von Marineoffizieren belästigt. Kurz gesagt: Auf De Rollers Tahiti ist so einiges los. Leider erscheint der Film in seiner narrativen Ordnung aber viel zu unfokussiert, um dem Gesehenen auch eine signifikante Bedeutung zu verleihen. Gerade die unzähligen Diskussionen verlieren schnell ihren Reiz, vor allem dann, wenn sie in Verbindung mit dem extrem langsamen Pacing auftreten.
    Benoît Magimel dient dabei immer als zentraler Bezugspunkt, um den sich alles dreht. Dieser soll, so Serra, das wahnsinnig umfangreiche Drehbuch des Films nie gelesen haben und trug während der Dreharbeiten In-Ear-Kopfhörer, mit deren Hilfe er den Großteil seines Schauspiels improvisierte. Dies dient zwar einerseits als direktes Sinnbild für den konfusen Schleier, den Serras neuestes Werk umgibt, andererseits demonstriert es aber auch Magimels beeindruckende darstellerische Fähigkeiten, die trotz aller dramaturgischer Schwächen makellos sind. Neben dem Hauptdarsteller stechen vor allem Pahoa Mahagafanau und Mahati Pambrun heraus, die als vielversprechende Newcomer ihr Gespür für natürliches Schauspiel beweisen.

    Die tropische Hitze, die Tahiti umgibt, ist in „Pacification“ fast schon durch die Leinwand spürbar. Die grandiosen Landschaftsbilder, eingefangen von Kameramann Artur Tort (der mit Serra in der Vergangenheit schon mehrfach zusammengearbeitet hat), sorgen jedenfalls für ein mysteriöses Flair, das aufgrund der langen Kameraeinstellungen und der geradezu philosophischen Dialoge eine fast schon transzendentale Gestalt annimmt. Der sprichwörtliche Ärger im Paradies ist dabei stets spürbar, aber nie direkt greifbar. Der Film ist ein überaus atmosphärisches Werk und kann den/die ein oder andere/n Zuseher*in sicherlich in seinen Bann ziehen. Leider wird das langsame Pacing im Laufe der Handlung aber ziemlich überstrapaziert, wobei sich die letzte halbe Stunde dann ohnehin als kleine Geduldsprobe herausstellt. Für Fans von Serras filmischen Arbeiten eine klare Sehempfehlung, ist „Pacifiction“ für den/die durchschnittliche/n Kinogänger*in sicherlich keine leichte (Film-)Kost.
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    25.11.2022
    22:43 Uhr