Forum zu Unruh

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  • Mein erste Wahl

    Das Thema Zeit und Zeitmessung unter dem Aspekt der Industrialisierung und der Leistungskontrolle ist schon an und für sich spannend, und besonders interessiert mich an dem Film, dass er es auf die Epoche projiziert, in der sich die Einstellung zu diesem Thema grundlegend zu ändern beginnt. Dass die im Film geäußerten anarchistischen Parolen gelegentlich wie eingelernt wirken, ist kein Mangel, sondern eher realistisch. Da ich den Film noch nicht gesehen, sondern nur die Beschreibung gelesen habe, verzichte ich vorläufig auf eine Bewertung.
    08.01.2023
    19:20 Uhr
  • Bewertung

    Vom Anfang der Zeit

    Exklusiv für Uncut von der Berlinale 2022
    Es tickt und surrt und klingelt, die Glocken schlagen. Im Zentrum des Spielfilms „Unrueh“ steht eine Uhrenmanufaktur im schweizerischen Jura. Wir befinden uns im auslaufenden 19. Jahrhundert, die Zeitmessung und -zählung wird gerade großflächig und von verschiedenen Akteuren parallel eingeführt, was so einige Probleme mit sich bringt. Die Polizei des Ortes ist auch dafür verantwortlich über die Zeit zu wachen, die Uhren anzugleichen, die nicht immer ganz akkurat gehen. Es werden vier verschiedene Zeitrechnungen benutzt: die der Fabrik, der Bahn, des Rathauses und des Telegraphen.

    Die Zeitmessung spielt vor allem eine Rolle für die Effizienz der immer industrieller werdenden Arbeitsprozesse. Als Reaktion auf die Rationierung haben linke Arbeiterorganisationen Aufwind – allen voran die Anarchisten. In diesem Kontext lernen sich auch der junge Anarchist Piotr Kropotkin (Alexei Evstratov) und Josefine Gräbli (Clara Gostynski) kennen, die als Fabrik-Arbeiterin für das titelgebende Unrueh verantwortlich ist, jenes Teil, welches die mechanische Uhr antreibt.

    Dem Film gelingt es, ein Gefühl dafür zu vermitteln, wie seltsam die Einführung der Zeit für die Menschen gewesen sein muss. Allein das Sounddesign schafft es, eine Reizüberflutung zu stiften. Extreme Nahaufnahmen der filigranen Uhrmechaniken und der Finger, die sie zusammenbauen wechseln sich ab mit Totalen, in denen Szenen, Unterhaltungen und Orte wie zufällig zu beobachtet zu werden scheinen.

    Die anarchistischen Parolen, die immer wieder von verschiedenen Figuren zum Besten gegeben werden, wirken leider häufig wie auswendig gelernt und aufgesagt. Dieses historisch interessante Thema hätte sich mit Sicherheit noch deutlich tiefgründiger und interessanter behandeln lassen.
    Dennoch gelingt Regisseur Cyril Schäublin mit seinem zweiten Langfilm ein tolles Porträt eines kuriosen historischen Moments, gewissermaßen des Zeitpunkts, der die Zeit hervorbrachte. Die Stärke des Werkes liegt nicht in dem entwickelten Narrativ, sondern in der scharfsinnigen, philosophischen und ästhetisch adäquaten Betrachtung des Phänomens der Zeit. Unruh bezeichnet auch ganz gut den Zustand, den der Film beim Ansehen auslöst. Ja er schafft es sogar, die alles beherrschende, stets knappe Zeit selbst in Frage zu stellen.
    22.02.2022
    19:33 Uhr