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    Zeitvertreib mit R.E.M.

    Hätte Universal Music den Welthit von Michael Stipe und Band nicht mit Freundlichkeit genehmigt, hätte dieses Langfilmdebüt von Kurdwin Ayub wohl den eigentlichen Star des Jugenddramas verloren: Losing My Religion erschallt in sämtlichen Variationen an irgendwelchen Orten in der goldenen Wienerstadt, in welcher Kulturen und Gesinnungen in einer wilden Mixtur und sich gegenseitig duldend koexistieren. Den Song hört man, ausbaufähig interpretiert von drei Maturantinnen, an kurdischen Festen oder aus dem Zimmer von Yesmin – sogar auf einer Hochzeit findet R.E.M.s zeitlose Nummer begeisterten Applaus – obwohl die Lyrics nicht gerade dafür geeignet sind, eine neue Verbindung zu feiern. Genauso wenig ist dieser Song dafür geeignet, wenn eine Muslimin gemeinsam mit ihren beiden Freundinnen, die anderer Konfession sind, sich aber dennoch in den Hidschāb werfen, einfach so zum Spaß einen auf Karaoke ohne Textablesen macht. Gut, es klingt ganz nett, andererseits aber auch wenig kraftvoll. Dafür lässt das bald auf Youtube gepostete Video einige gestalterische Raffinessen sehen – und wird ganz plötzlich zum Hit. Jetzt sind es nicht nur Yesmin, Nati und Bella, die sogar von Yesmins kurdischem Vater bewundert werden, sondern auch viele andere junge Leute, die sich zum Gesang hinreißen lassen – sei es nun im traditionellen Gewand islamischer Kultur oder eben nicht.

    Während Yesmin also damit zu kämpfen hat, dass sie von ihren Freundinnen die Einzige ist, die diesen Stoff tagtäglich übers Haupt ziehen muss, geht ihr jüngerer Bruder ganz andere Wege, und zwar jene ohne Ziel und Verstand, die darauf hinauslaufen, dass dieser bald von der Polizei gesucht wird. Tja, und sonst? Sonst bietet Sonne einen ungeschönten, ungeschminkten und sehr direkten Blick auf eine Generation, die das Ende des Alphabets erreicht hat, ihren Platz in der Welt aber nicht definieren, geschweige denn ihre Wünsche und Träume artikulieren kann. In diesem Vakuum der Langeweile, des Sinnsuchens ohne Anhaltspunkte und des Abhängens auf Festivitäten köcheln so einige Impulse vor sich hin, die vielleicht aufgegriffen werden oder auch nicht. Oder gegen stereotypische Verhaltensmuster eingetauscht werden, die wohl eher die Generation Clueless vertreten, wenn Social-Media-Gadgets wie Elfenohren und Broccoli für kurze, aber schnell vergängliche Spaßmomente sorgen, die keine Nachhaltigkeit besitzen.

    Kurdwin Ayub, geboren im Irak und in Wien nach der Flucht ihrer Familie aufgewachsen, verdient für ihren ersten Langfilm jedenfalls Respekt. Als selbst verfasstes Zeitportrait zwischen Smartphone-Displays und dem nachdenklichen Blicken von Hauptdarstellerin Melina Benli (von der wir wahrscheinlich noch viel mehr sehen werden, denn die Dame hat Talent) ist es sicher nicht einfach, hier die nötige Balance zu finden, um nicht nur auf Symptom-Ebene einen Zustand abzulichten – mit allerlei Klischees eben, die diese Altersgruppe plakatieren. Unterstützt von Ulrich Seidl, der seit jeher österreichische Befindlichkeiten mit hartem Realismus peitscht, folgt sie dann doch – und leider zu oft – den Empfehlungen des Maestros, anstatt sich davon loszulösen.

    Für den eigenen Stil braucht es natürlich Zeit. Mal sehen, wie sie ihren zweiten Spielfilm Mond auslegen wird. In Sonne allerdings tritt die Geschichte auf der Stelle, setzt sich unentschlossen mit der muslimischen Jugendkultur auseinander, ohne tiefer in der Materie zu stochern und begnügt sich am Ende mit banalen Elementen gängiger Mädchenfilme, obwohl so manche – und vor allem eine – Wendung im Film viel mehr Aufmerksamkeit verdient hätte als Ayub ihr letztlich gegeben hat. Abgelenkt vom Schnickschnack diverser Smartphone-Apps, verliert sie den Kern der Geschichte immer mal wieder aus den Augen.


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    20.05.2023
    17:42 Uhr
  • Bewertung

    Beeindruckend

    Berührend, mit komischen und teils auch beklemmenden Momenten, schnell geschnitten, dann wieder nachdenklich-ruhig und generell nicht leicht in eine Schublade zu stecken, weder der Film noch seine Protagonisten (wie sich vor allem in der Figur der Mutter zeigt). Wirklich beeindruckender Film!
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    16.09.2022
    22:17 Uhr
  • Bewertung

    Gelungenes Jugenddrama der Generation Z

    Exklusiv für Uncut von der Berlinale 2022
    Was bedeutet Heimat? Wer hat ein Anrecht darauf sie als solche zu bezeichnen? Und wie identifiziert sich die Tik-Tok-Generation zwischen Likes, Kulturclash und dessen Aneignung? Die irakstämmige Regisseurin Kurdwin Ayub hat sich in ihren Filmen schon öfters mit dem Thema der Identität junger Migranten, sowie den Social-Media-Trends auseinandergesetzt. In ihrem Langfilmdebüt „Paradis! Paradis!“ begleitete sie ihren Vater Omar, der auch eine Rolle in „Sonne“ hat zurück in den kurdischen Irak, wo er sich eine Wohnung kaufen will.

    In „Sonne“ ist es die Maturantin Yesmin (Melina Benli), die mit diesen Fragen konfrontiert wird. Nachdem sie und ihre Freundinnen Bella (Law Wallner) und Nati (Maya Wopienka) eines Nachmittags mit den Gebetsschalen der Mutter spielen und ein Video mit „Losing My Religion“ von REM aufnehmen. Das Video mit Twerks, Tanz und Emoticons wird ein Riesenhit auf Youtube. Die Mutter (dargestellt von Ayubs realer Mutter) ist wenig begeistert, der Vater (Omar Ayub) sieht es als „heutzutage normal“. Er beginnt den Mädchen regelmäßig Auftritte in verschiedenen arabischen und persischen Feierlichkeiten und Institutionen rund um Wien zu besorgen.

    Während Yesmin zunehmend an diesen Aktionen, in denen sich ihre beiden nicht-muslimischen Freundinnen ein Kopftuch überziehen, zweifelt, beginnen sich Bella und Nati immer mehr in der Community heimisch zu fühlen. Es sind die kleinen Instanzen, in denen Ayub hier einen Paradigmenshift hervorhebt. Nati, die blondeste und „österreichischte“ der Freundinnen übernimmt sowohl bei den Vorführungen als auch bei Medienterminen die Rolle des Rädelsführers. Spricht davon, welche Stimme „ihnen“ nun zuteilwurde. Die Frage, ob sich das Video über den Islam lustig macht, wirkt meist reaktionär abhängig vom Gegenüber beantwortet.

    Doch abseits der Frage von einer gesellschaftlichen Rezeption vergisst Ayub nie, Yesmins innere Beziehung zu ihrem neuen Ruhm zu untersuchen. Als zweite Generation steht sie, wie so oft, ein wenig zwischen den Stühlen. Aber nicht, weil ihr Haushalt nicht progressiv genug wäre, wie das andere Geschichten oft darstellen. Die Mutter bleibt zwar vorwiegend daheim und schimpft den Vater, er würde sich nicht genug um die Kinder kümmern. Aber diese Vorsicht, zeigt sich in einen der stärkeren Szenen, speist sich aus den dramatischen Erlebnissen des Kriegs, den die Mutter erlebt hat.

    Ebenso blickt Ayub durch die Tik-Tok- und sonstigen Social-Media-Kanäle immer auf Yesmins Bruder Kerim, der droht in eine auffällige Jugendgang abzudriften. Als eines Tages die Polizei vor der Tür steht, scheint klar, dass es um seine reine Weste geschehen ist. Aber Ayub gibt sich mit solch einfachen Antworten nicht zufrieden. „Wir haben doch Rollen getauscht“, meint Yesmin provokant bei einem Auftritt zu den Freundinnen. „Ihr seid jetzt die Ausländer.“ Dieser Rollentausch erweitert sich auch auf die Familie. Denn während Kerim vielleicht doch Zweifel an seinen Entscheidungen zeigt, so driften ihre Freundinnen mit ihren neuen kurdischen Freunden immer mehr in eine Parallelgesellschaft ab, aus der sie vielleicht nicht mehr herauskommen.

    Ayub gelingt es viele Identitäts- und gesellschaftliche Probleme der kurdischen Community in Wien aufzugreifen, ohne dabei überladen zu wirken. Als Millenial beherrscht sie auch, wie man schon in ihren Kurzfilmen sehen konnte, die Kunst sich durch soziale Medien Clips auszudrücken. Sie lässt die Jugendlichen ihre eigene Sprache auf die Leinwand projizieren. Das macht den Film erfrischend anders, traurig, aber auch mitfühlend. Ein gelungenes fiktionales Langspielfilmdebüt der Regisseurin.
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    13.02.2022
    09:47 Uhr