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    Erntertainment für die Ausrangierten

    Ungefähr so könnten die Karrieren von Roy Black oder Gildo Rex zu Ende gegangen sein, bevor sie sich selbst ein Ende setzten. Mit Auftritten bei Möbelhauseröffnungen, Kaffeefahrten oder Tombolas irgendwo in der Mehrzweckhalle eines Pensionistenheims (nichts für ungut). Dass jeder Mensch, der sich dafür begeistern kann, es wert ist, vor ihm zu singen, sollte Performance-Künstlern wie Musikern und Sängern eigentlich klar sein, doch ist die Diskrepanz zwischen verschwenderischen Ruhmeszeiten und dem Zustand, wo sich kaum jemand noch nach dem Star von einst umdreht, viel zu groß, um resilient genug dafür zu sein. Der wohl polarisierendste Filmemacher Österreichs, Ulrich Seidl, hat sich mit Rimini dieser verhaltenen Götterdämmerung eines ehemaligen Bauchbinden-Toreros angenommen, um einen Blick auf die ausleiernden Mechanismen von Erfolg und einem damit einhergehenden Lebensglück zu werfen.

    Glücklich sind seine Figuren meistens nicht. Ganz im Gegenteil. Doch es kann leicht sein, dass diese sich selbst zu einer Zwangsbeglückung verhelfen, die aus unbefriedigendem Sex, viel Alkohol und einem Seehundfellmantel bestehen, den zumindest Richie Bravo stehts über seinem Feinripp trägt, um in der Kälte von Italiens Badeort Rimini nicht zu erfrieren. Da fragt man sich natürlich: Wie jetzt? Bella Italia und Frost? Natürlich existieren diese beliebten Destinationen für Frau und Herr Österreicher auch außerhalb der Saison. Da die Hotels alle leer stehen, bieten zumindest manche Reiseveranstalter für die Zielgruppe 60+ spottbillige Ausflüge an, deren Highlights sich zur Vorabendzeit auf die Bühne des Speisesaals wuchten. Diese personifizierte Sternstunde der Schlagermusik ist Michael Thomas, stimmgewaltig und aufgesetzt charmant. Als nicht von allen vergessener Reserve-Udo Jürgens lässt er die Herzen reiferer Damen hoher schlagen und sich für manchen weiblichen Groupie auch bezahlen, der ihn gerne textilfrei sehen möchte. Ja, es gibt sie noch, die wirklichen Fans, unter anderem Inge Maux als promiskuitive Wuchtbrumme, die sich für Richie Bravo sogar zu einem Blow Job hinreissen lässt.

    Womit wir wieder bei Seidls Vorliebe für ungeschönten Amateur-Sex wären, die sich in seinen Werken mal mehr, mal weniger bizarr präsentiert. Diesmal haben seine Intimitäten gar etwas Verletzliches, weniger Brutales, obwohl gefällige Schönheitsideale bewusst konterkariert werden, um dem Reality-Charakter zu entsprechen, der zumindest Rimini den Anschein verleiht, wir hätten es mit einer Wahrheit ohne Knautschzone zu tun. Das aber könnte ein Trugschluss sein. Die Geschichte spinnt sich zwar weiter, indem Richie Bravos verschollene Tochter auftaucht und Wiedergutmachung verlangt für alle die Jahre, in denen der Schnulzenkönig kein Geld hat springen lassen – dennoch verharrt Seidl in einer subjektiv empfundenen Zeitlosigkeit und beobachtet seinen immer wieder auf- und abgeisternden Vagabunden im Pelz, der unter einem Glassturz eine Welt auf dem Abstellgleis erkundet und an Orte gelangt, die er zwar kennt, die ihm aber Vertrautes aus früheren Zeiten zurückgeben.

    Rimini ist längst impressionistisches Erwachsenenkino mit symbolischem Installationscharakter. Wenn Michael Thomas eiligen Schrittes in akkuraten Tableaus, die eine Art Endzeit imitieren, an Wind und Wetter ausgesetzten, afrikanischen Flüchtlingen vorbeiläuft, ohne sie eines Blickes zu würdigen, ist es so, als wären diese Menschen zu Stein erstarrt, als wären sie Skulpturen des Erinnerns, wie sehr hier Bedürfnisse ihren Wert verlieren. Das hat eine ganze eigene Atmosphäre, da gelingt Seidl tatsächlich so etwas wie eine ironische, selten sarkastische Sicht auf einen irreparablen Status Quo, der ganz am Ende auf tragikomische Weise wieder (und vielleicht gar eine neue) Ordnung schafft, nicht ohne ernüchternde Resignation.


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    24.05.2023
    13:25 Uhr
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    Richie Bravo Superstar

    Exklusiv für Uncut von der Berlinale 2022
    Ulrich Seidl gilt gemeinhin als das „Enfant Terrible“ des österreichischen Kinos. In seinen Filmen blickt der heute 67-jährige Sohn einer niederösterreichischen Ärztefamilie meist tief in menschliche Abgründe. Seidl lässt die Kamera dort stehen, wo es den meisten zu unangenehm wird. Nachdem Seidl vorrangig für seine Spielfilmprojekte wie „Hundstage“ (2001), „Import Export“ (2007) und der viel geschätzten „Paradies“-Trilogie (2012-13) Bekanntheit und Anerkennung erlangt hatte, kehrte er in den vergangenen Jahren zu seinen dokumentarischen Ursprüngen zurück. Mit „Im Keller“ (2014) und „Safari“ (2016) drehte Seidl zwei kontroversiell aufgenommene Projekte, bei denen sich aufgrund der ständigen Manipulation der Wirklichkeit diskutieren ließe, ob diese den Stempel „Dokumentarfilm“ denn überhaupt noch verdient hätten. Mit „Rimini“ hat Seidl nun seinen ersten nicht-dokumentarischen Spielfilm seit fast einem Jahrzehnt fertiggestellt und eines schon mal vorweg: die Wartezeit hat sich überaus gelohnt.

    Das Drama dreht sich um Richie Bravo (Michael Thomas), einst ein gefeierter Schlagerstar, der mittlerweile in seiner Partyvilla im italienischen Rimini verweilt und versucht aus früheren Erfolgen Kapital zu schlagen. Hier und da findet sich noch ein Fan aus alten Tagen, den der gebürtige Niederösterreicher mit seiner Gesangskunst (oder auch anderweitig) beglücken kann. Doch die ruhmreichen Tage sind gezählt, die winterliche Tristesse des Badeorts sorgt für trübe Stimmung. Den Spaß will sich der begnadete Entertainer mit blonder Mähne und Bierbauch aber nicht nehmen lassen: Sex, Drugs and Rock’n’Roll wird im Leben des abgehalfterten Promis immer noch groß geschrieben. Wenn er gerade nicht seiner Liebe zur Musik nachgehen kann, stillt Richie gerne mal seine Alkohol-, Sex- und Spielsucht. Doch wo Licht da auch Schatten: als seine Tochter Tessa (Tessa Göttlicher), mit der er schon seit Jahren nicht mehr im Kontakt war, auftaucht und ihr zustehendes Geld einfordert, wird der leichtfüßige Spaßsänger mit dem Ernst des Lebens konfrontiert. Die kurz davor stattgefundene Beerdigung seiner Mutter sowie die Demenzerkrankung seines Vaters (Hans-Michael Rehberg), der von der eigenen Nazi-Vergangenheit eingeholt wird, machen die Dinge nicht leichter.

    In seinem filmischen Schaffen rückt Seidl stets Menschen in den Vordergrund, die man sonst kaum im Kino zu Gesicht bekommt. Menschen, denen fast nie eine Bühne geboten wird. Menschen, die auch wie echte Menschen aussehen und ohne Hollywood-Makeover auskommen. Obwohl Seidl meist wertfrei bleibt, lässt sich ein manchmal zynischer oder misanthropischer Blick auf seine Figuren kaum leugnen. Trotz klassischer Seidl-Zutaten und dem gewohnten Nihilismus, scheint in seinem neuesten Werk eine Warmherzigkeit und Empathie durch, die viele dem fast 70-jährigen Skandalregisseur wohl nicht zugetraut hätten. Protagonist Richie Bravo erscheint auf den ersten Blick nicht zwingend sympathisch. In erster Linie ist er ein Showman, der sein gesamtes Leben damit verbracht hat, anderen gefallen zu wollen und selbst oft den einfachen Weg gewählt hat. Dass er mit seinem destruktiven Verhalten jedoch auch manche Mitmenschen auf der Strecke gelassen hat (was sich anhand seiner entfremdeten Tochter verdeutlicht) wird dem Unterhaltungskünstler erst spät klar. Doch ist es die aufrichtige Liebe für seinen Beruf, die dem Schleimbeutel liebenswerte Qualitäten verleiht. Wenn er die Bühne betritt, darf Richie er selbst sein, seinen Gefühlen freien Lauf lassen. Die mitreißenden Auftrittsszenen, in denen Richie mit seiner Schlagerkunst die Massen begeistert und gleichzeitig über den eigenen Stand der Dinge reflektiert, bilden daher das emotionale Kernstück des Films. Beutet Richie sein Publikum mit billiger Unterhaltungsmusik aus, um selbst ein paar Groschen zu verdienen? Oder schenkt er früheren Fans, die gerne an „gute alte Zeiten“ zurückerinnert werden, ein paar Minuten bittersüßer Nostalgie? Hauptdarsteller Michael Thomas verkörpert Bravo mit großer Inbrunst und gibt der Figur einen gewissen Charme, den man sich als Zuschauer nur schwer entziehen kann.

    Seidls gewohnter Realismus verleiht dem Film eine zusätzliche Dimension an Greifbarkeit, die den winterlichen Mikrokosmos durch und durch authentisch erscheinen lässt. Stilistisch wagt sich Seidl doch auch in neue Gefilde. Seinen Dokumentarismus und die gewohnte Bildsymmetrie ersetzt er durch eine bewegungsreichere Bildsprache. Die Tristesse Riminis nimmt durch die nebelige Ästhetik einen eigenen Charakter im Film ein und bekommt durch gewisse Bilder auch politischen Subtext verliehen.

    Ulrich Seidl hat mit „Rimini“ ein beachtliches Werk geschaffen, das oft in unangenehme Ecken des menschlichen Daseins blickt, nie aber die Menschen dahinter vergisst. Einer der besten Filme im außergewöhnlichen Schaffenskatalog des österreichischen Skandalregisseurs.
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    11.02.2022
    23:59 Uhr