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    Der letzte Vorhang fällt am besten

    Irgendetwas scheint der alte Mann Zeit seines Lebens übersehen zu haben. Nämlich dessen Sinn im Auge zu behalten. Um das noch zu ändern, könnte es fast schon zu spät sein. Das wäre es mit Sicherheit auch gewesen, wäre Mr. Williams, Angestellter in der London County Hall für Bauwesen und Stadtplanung, nicht mit einer Nachricht konfrontiert worden, die seine Prioritäten umordnen wird. Wie so meist und so oft fängt man selbst erst an, über das eigene Sein nachzudenken, wenn der Tod an die Tür klopft. Die Endlichkeit der Existenz, vor allem das Bewusstwerden dieser, vermittelt dann erst ihren Wert. Doch was verkörpert diesen? Genau dieser Frage will Mr. Williams in den letzten Monaten, die ihm noch bleiben, nachgehen. Als penibler, überpünktlicher, ehrenwerter Gentlemen im Nadelstreif und mit Melone auf dem Kopf, ist er zumindest anfangs noch die personifizierte Bürokratie. Als Abteilungsleiter liegt ihm die Ablage diverser Anträge bis auf unbestimmte Zeit am nächsten. Von seiner Untergebenen Miss Harris liebevoll-ironisch als Mr. Zombie bezeichnet, tut er auch tatsächlich genau das, um diesem Kosenamen alle Ehre zu machen. Fast scheint es, als spüre er sich selbst nicht mehr und lebt nur die Fassade eines perfekt scheinenden Lebens – bis eben die Diagnose Krebs einen anderen Menschen aus ihm macht.

    Basierend auf dem in den Fünfzigerjahren erschienenen japanischen Psycho- und Gesellschaftsdrama Ikiru von Akira Kurosawa, hat sich Oliver Hermanus das von Kazuo Ishiguro leicht überarbeitete und ins England der Nachkriegsjahre transportiere Drehbuch zu Herzen genommen und mit Bill Nighy einen Charakter gefunden, der die phlegmatische Seite eines Mr. Scrooge verkörpert, nur eben deutlich weniger geizig, nicht unfreundlich, aber distanziert zu seinen Mitmenschen, doch auf eine gewisse Weise ihnen gegenüber ignorant. Dieser in sich gekehrte graue Mann hat Potenzial, das merkt man. Das sieht und spürt man. Die junge Miss Harris, entzückend und unendlich liebevoll dargeboten von Aimee Lou Wood, die dem leise vor sich hinhauchenden Nighy fast schon die Show stiehlt, scheint den Funken in diesem versteinerten Individuum an Correctness als erste zu entdecken. Sie wird auch die Einzige sein, die von dessen Schicksal erfährt. Wie ein Engel, aber nicht der vergangenen, sondern der zukünftigen Weihnacht, scheint sie in Mr. Williams eine bislang unentdeckte Tatkraft zu mobilisieren.

    Diesem Erweckungsmärchen zu folgen, zahlt sich aus. In den Momenten, wenn Nighy seiner Muse des späten Lebens sein Empfinden von der Welt anhand eines Gleichnisses der Kinder auf einem Spielplatz auf den Punkt bringt, gerät Living zu einer herzergreifenden und unkitschig melancholischen Selbstreflexion, die auf unkomplizierte, wohltuend einfache Weise bestätigt, worauf es im Leben ankommt. Diese Gespräche sind das Salz in der Suppe, und wenn der sich behutsam bewegende, kummervoll dreinblickende Nighy zu einem traurigen Lied aus seiner Kindheit anstimmt, ist der Scrooge-Effekt von Dickens Bekehrung auch hier zu finden, samt Gänsehaut-Garantie.

    Living lebt durch alle Szenen hinweg eine sehr britische Mentalität und entwickelt sich zu einem ungewöhnlichen Männerdrama, in welchem die weibliche Figur der Miss Harris aus einer anderen Dimension in den Kosmos zugeknöpfter Männlichkeiten eindringt wie eine Lichtgestalt. Was Nighy dann daraus macht, ist nur in Rückblenden zu sehen, die ganz am Ende Resümee ziehen. Die Botschaft, die vermittelt wird, ist eine, die wir natürlich alle kennen. Mit dem eleganten Briten, der noch dazu singt, wird das Remake eines Klassikers zu einem unpeinlichen und positiv konnotierten Rührstück.


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    05.03.2023
    15:49 Uhr
  • Bewertung

    Man lebt nur einmal

    LIVING überzeugt mit ruhigen, schönen Bildern und einem Bill Nighy in der Hauptrolle, der in der Nachspielzeit seines Lebens etwas Gutes vollbringt!
    Carpe diem.
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    29.01.2023
    21:17 Uhr
  • Bewertung

    Die Mühlen der Bürokratie

    "Living" lebt von einem Bill Nighy in Höchstform. Nuanciert und immer würdevoll porträtiert der britische Star den Wandel seiner Figur vom kalten Bürohengst, der sich für nichts und niemanden zuständig fühlt, zu einem engagierten Kämpfer. Die Ausgangssituation beziehungsweise der Auslöser für die Veränderung ist nicht gerade originell: Williams, der kurz vor der Pensionierung steht, erfährt, dass er nicht mehr allzu lang zu leben hat. Trotzdem schaut man ihm gerne dabei zu, wie er versucht, endlich wirklich zu leben.
    "Living" macht ebenso Spaß, wenn die Mühlen der Bürokratie aufs Korn genommen werden. Wenn Antragsteller*innen von A nach B und wieder nach A geschickt werden, weil sich keine Stelle zuständig fühlt. Herrlich pointiert! Und vermutlich nicht nur dramaturgische Zuspitzung, sondern mitunter nicht so weit entfernt von der Realität...
    Vor allem gegen Ende gleitet der Film leider stark ins Melodram ab und spart nicht gerade mit Kitsch. Manchmal wäre weniger mehr...
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    03.11.2022
    13:58 Uhr
  • Bewertung

    Ist das Leben nicht schön?

    Exklusiv für Uncut vom Sundance Film Festival
    Remakes sind in der Filmwelt ein heikles Thema. In den seltensten Fällen kann eine Neuverfilmung dem heiligen Original das Wasser reichen, geschweige denn überhaupt in die Nähe kommen. Doch Ausnahmen bestätigen wie üblich die Regel. Mit „Living“ wagt sich Regisseur Oliver Hermanus an eine britische Neuauflage des japanischen Kino-Meilensteins „Ikiru“ aus dem Jahre 1952. Gewiss kommt der Film zwar nicht an das Meisterwerk des großen Akira Kurosawa (das selbst von dem Tolstoi-Roman „Der Tod des Iwan Iljitsch“ inspiriert wurde) heran, doch gelingt es Hermanus den humanistischen Geist von „Ikiru“ adäquat in das Großbritannien der Nachkriegszeit zu transportieren. Von einer bloßen Kopie ist das von Kazuo Ishiguro geschriebene Remake aber meilenweit entfernt, findet der Film trotz der unübersehbaren Vorlage seinen ganz eigenen Rhythmus.

    Im London der frühen Fünfzigerjahre leitet der grimmige Mr. Williams (Bill Nighy) eine Abteilung für städtische Bauplanung und steht eigentlich kurz vor der Pensionierung. Doch die Schreckensdiagnose Krebs sorgt für ein plötzliches Umdenken. Der unheilbar kranke Senior realisiert, dass er seine Seele an die Monotonie der Bürokratie verkauft hat und will seine letzten Lebensmonate auf Erden dazu verwenden, Gutes zu tun. Williams möchte dem Wunsch zahlreicher Eltern nachkommen, einen Kinderspielplatz in den Ruinen einer zerbombten Nachbarschaft errichten zu lassen. Gleichzeitig versucht der alte Herr, das distanzierte Verhältnis zu seinem Sohn zu reparieren und schöpft neue Kraft aus der Begegnung mit der jungen Mitarbeiterin Margaret (Aimee Lou Wood).

    Bill Nighy durfte in seiner Jahrzehnte umfassenden Karriere schon mehrfach sein Können als Charakterdarsteller unter Beweis stellen - sei es nun als alter Rockstar im modernen Weihnachtsklassiker „Tatsächlich...Liebe“, grantiger Schwager in „Shaun of the Dead“ oder Krakenmonster Davy Jones in „Fluch der Karibik 2“. In Hermanus' „Ikiru“-Remake zeigt sich der britische Mime von einer bislang selten gesehenen ernsten Seite und begeistert vor allem mit ruhigen Tönen. Eindrucksvoll bleibt insbesondere die Szene, in dem Mr. Williams sich kurz nach seiner tragischen Diagnose mit einem jungen Autoren (Tom Burke) auf Sauftouren begibt. Als Williams in einer Bar eine schottische Ballade anstimmt, ist Nighys ausdrucksstarkem Gesicht deutlich anzumerken, wie in diesem Moment das gesamte Leben seiner Figur schlagartig an ihm vorbeizieht. Ein paar Blicke und Gesten reichen, um Gefühle tiefer Traurigkeit hervorzubringen. Nighys Performance ist einer der stärksten im ohnehin beachtlichen Oeuvre des 72-jährigen Briten und dürfte ihm möglicherweise sogar den ein oder anderen Award bescheren.

    Doch auch abseits Nighys umwerfender Darbietung ist „Living“ ein bewegendes Melodram voller Ruhe und stilistischer Finesse. Das herrlich altmodische Szenenbild und die imposanten Bildkompositionen der verschneiten Szenerie sorgen für das passend kühle Ambiente. Doch schlummert in dem herzzerreißenden Drama auch ein ungemein optimischer Blick in die Zukunft. Eine Zukunft, in der Kinder zu Hoffnungsträgern der Gesellschaft werden.

    Oliver Hermanus mag sich zwar an Akira Kurosawas „Ikiru“ orientiert haben, doch hat er mit „Living“ im Endeffekt etwas Eigenes geschaffen. Ein famos gespielter Film, der sich wie ein tieftrauriger Abschiedsbrief entfaltet und sein Publikum mit einer wehmütigen Schlusspointe in bittersüße Melancholie verfallen lässt. Elegisch, sehnsüchtig und doch lebensbejahend: so geht humanistisches Kino!
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    26.01.2022
    14:52 Uhr