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    Menschliche Bedingtheit und jugendliche Freiheit

    Exklusiv für Uncut
    Hannah Arendt unterscheidet drei menschliche Grundtätigkeiten: Arbeiten, Herstellen und Handeln. Während die erstgenannten eindeutige Zwecke erreichen sollen, entsteht das Handeln durch die zwischenmenschliche Interaktion mit offenem Ende. Mit dem Handeln kommen Freiheit, Offenheit und Unberechenbarkeit in die Welt. Und wir alle können uns mit Garantie an unsere erste Jugendliebe erinnern und nicht viel steht stellvertretend für das Handeln als diese erste Bekanntschaft ohne klares Ziel, ohne geplante Zukunft und ohne die Notwendigkeit, einer ermüdenden Lohnarbeit nachzugehen.

    Davon handelt „Licorice Pizza“. Hier geht es um das existenzielle Handeln zweier Menschen – ohne planbaren Ausgang und mit einem Höchstmaß an Freiheit. Bevor wir einsteigen, muss eine Frage beantwortet werden: Warum Lakritze Pizza? Nein, das ist keine wildgewordene amerikanische Kulinarikvariante des italienischen Teiggerichts, sondern eine Bezeichnung für Vinyl-Schallplatten.

    Paul Thomas Anderson (PTA) prägt das moderne Autorenkino und ist einer der meistgefeierten Regisseure der aktuellen Zeit. Sein neuer juvenil-komödiantischer Coming-of-Age-Film positioniert sich innerhalb der aktuellen Nostalgie-Phase Hollywoods (wir denken an „La La Land“ oder „Once Upon A Time in Hollywood“) und reist mit den Zuschauenden in die 1970er Jahre des kalifornischen San Fernando Valley, wo auch PTA aufgewachsen ist. Wir begegnen dem 15-jährigen Jungunternehmer Gary Valentine – gespielt von Cooper Hoffman, dem Sohn des zu früh verstorbenen Philip Seymour Hoffman – und der zu Beginn als Fotografin tätigen Alana Kane, die von Alana Haim porträtiert wird. Die Haim-Familie ist in den USA ein gängiger Begriff, Alana macht gemeinsam mit ihren Schwestern in der Rockband „Haim“ Musik und PTA hat die gesamte Familie vor die Kamera geholt, um maximal authentisch auch die Familie von Alana Kane im Film zu verkörpern. Und was strotzen die familiären Dinnerszenen von lebendiger Frische. Das Drehbuch ist großartig, die Sätze schnell, pointiert und insbesondere Alanas Vater improvisiert seine Rolle komplett. Auf der Handlungsebene zielt der Film auf geringe Komplexität: wir verfolgen episodenhaft Garys Versuche, sich ein kleines Business aufzubauen; zunächst mit Schauspiel, dann mit Wasserbetten und später mit Flipperautomaten; parallel beobachten wir Alana bei ihren Bemühungen, in dieser Welt anzukommen und wie sie sich durch scheinbar magische Anziehung stets mit dem eigentlich zu jungen Gary umgibt. Der Film schafft es, beide Hauptrollen gleichermaßen im Fokus zu behalten. Während der Nostalgie-Odyssee entstehen eine Menge humorvoller Momente und skurriler Situationen. Sean Penn und Bradley Cooper steuern ihren unkonventionellen Beitrag in verschrobenen Nebenrollen bei; von den Nebenhandlungen läuft jedoch die ein oder andere ins Leere. Witzige Trivia: der junge Cast wusste nicht, dass Bradley Cooper eine Rolle im Film hat – bis er in gänzlich weißem Anzug höchst exzentrisch das erste Mal vor die laufende Kamera tritt.

    Interessant ist der kurze Seitenhieb im Hinblick auf die Klimakrise. PTA nutzt das historische Ereignis der Ölkrise 1973, um eine aus heutiger Sicht unvorstellbare Alternativwelt zu zeigen, in der alle Autos ob des Mangels an Benzin stillstehen. Nun sind die Menschen angehalten, ihre eigene Energie für mobile Zwecke zu erzeugen und so sehen wir häufig eine dynamische Kamera, die Personen beim Rennen oder Gehen einfängt. Vielleicht hat PTA damit eine undefinierte reale Zukunft angedeutet.

    Inszenatorisch versetzt „Licorice Pizza“ uns in das damalige Zeitgeschehen. Die Bilder sind grobkörnig, kalifornisch warm und absichtlich gealtert. Die Kamera wählt bemerkenswerte Blickwinkel, wenn wir aus Garys Perspektive mit all dem jugendlichen Trieb eine attraktive Frau sehen, die sich über ihn beugt und die Kamera dabei ihren Kopf verkehrtherum abbildet. Oder wenn gestische Feinheiten so aufgefangen werden, dass das Bild mehrere Sekunden auf einem Mund verharrt, der dreimal in verschiedener Tonlage „Nein“ spricht. Plansequenzen, mit denen uns PTA regelrecht in den Film saugt, die kinetische Kamera und besagte statische Blickwinkel sorgen für kurzweilige Tempowechsel. Im Hintergrund rauscht oft ein Radio oder ein Fernseher oder der erstklassige 70er-Soundtrack untermalt die Szenen passend. Der Regisseur zieht viele Register, weiß genau, was er tut und ebenso besticht das gesamte Ensemble, getragen von den beiden Newcomern – belohnt mit einer Globe-Nominierung für Alana Haim und drei Oscar-Nominierungen für PTA (Film, Regie und Buch; mit denen kommt er auf 11 Nominierungen insgesamt ohne einen Gewinn).

    Trotz all der Originalität, des Witzes, der Frische, der Nostalgie, der Optik, der Details, trotz all der positiven Elemente des Films muss konstatiert werden, dass der Film kleine Längen hat. Es fehlt der große Spannungsbogen und in gewisser Weise der kontemplative Anspruch. Das ist Nörgeln auf hohem Niveau, der Film regt zum Weiterdenken an und letztlich ist es auch eine Stärke, dass der Film keinem Grande Finale zustrebt, sondern eher einen zeitgeschichtlichen Ausschnitt liefert, aber es mangelt am letzten Touch, am aussagekräftigen Glanzpunkt. Eine Art Katharsis erzeugt „Licorice Pizza“ zum Abschluss auch, aber für eine dezent zu lange Spieldauer hapert es an Szenen, an die sich die Filmgeschichte erinnern wird (im Gegensatz zum restlichen PTA-Œuvre).

    Fazit: Eine Hommage an die 1970er Jahre, ein lebhaftes Porträt zweier Menschen und eine hoffnungsvolle Ode an das jugendliche Leben. Paul Thomas Anderson schöpft aus seinem schier unendlichen Fundus famoser Ideen und entwickelt einen Film über das existenzielle Handeln und die authentische Zuneigung junger Menschen. Er zwingt uns keine Emotionen auf, vermeidet normative Wertigkeiten, sondern führt uns zum Grundgefühl der Liebe, die sich mal nähert und mal distanziert. Insgesamt fällt diese Ungewissheit dem Film etwas auf die Füße, wenn er ein allzu versöhnliches Ende findet und dem Drehbuch die Vollendung fehlt.
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    15.02.2022
    08:57 Uhr
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    buntes 70er Jahre coming-of-age Gewusel

    Der Film zeichnet sich jetzt nicht unbedingt durch eine stringente Handlung aus, sondern besteht mehr aus Episoden, von denen weniger durchaus nicht geschadet hätten. Der einzig rote Faden durch den Film sind Alana und Gary, aber mehr braucht es auch nicht, man sieht den beiden einfach gerne zu. Mir hat das bunte Gewusel in der perfekten 70er Ausstattung inklusive toller Musik jedenfalls Spaß gemacht. Die Einstellungen waren auch ungewöhnlich: gefühlt sind sie entweder Close-Ups der Gesichter, oder zeigen die Charaktere beim Laufen. Alana Haim ist einfach wunderbar, überhaupt ist der Cast großartig: Sean Penn in einer absurden Nebenrolle, die gesamte Haim-Familie ist sowieso einfach grandios (bei mir folgte das Aha-Erlebnis wie sie es geschafft haben sich so ähnlich sehende Schauspielerinnen als Schwestern zu casten erst beim Abspann). Mir wurde der Film mit folgenden Worten angekündigt: "er war mir viel zu viel Handlung und einiges davon unglaubwürdig, aber ich bin glücklich aus dem Kino gegangen". Dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen.
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    05.02.2022
    16:21 Uhr