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    Wo der Teufel tanzt

    Exklusiv für Uncut
    Ein Umriss tritt aus dem Nebel hervor. Man sieht durchs Fenster, wie er näherkommt. Er wird zu einem Kind mit Kapuzenpulli, das über ein Feld auf das Haus zugeht, in dem die Kamera steht. Es kommt, um zu verkünden, dass es sich auf den Weg macht. Jesus, ein Kind, das sich mit seinem Freund Rigo über die Felder davonmachen wird ins große Unbekannte. Amerika, Land der Hoffnung. Dass sie im Nebel verschwinden werden, wissen sie nicht.

    Regisseurin Fernanda Valadez, die für ihr Spielfilmdebüt den Publikumspreis beim Sundance Festival 2020 erhielt, schickt die zwei befreundeten Mütter Magdalena und Chuya auf die Suche nach ihren Söhnen, als sie zwei Monate nach deren Weggang immer noch nichts von ihnen gehört haben. Vor der Kamera als gesichtslosem Beamten sitzen sie da, ihre bangen Gesichter in Großaufnahme, im Hintergrund das verschwommene Geleuchte von Weihnachtsschmuck. Sie bekommen einen dicken Ordner vorgelegt, in dem die Fotos der in der Nähe der Grenze Getöteten der letzten zwei Monate zu finden sind. Rigo ist dabei. Man sieht seine Mutter Chuya, die nicht hinschauen will, den Ordner nicht sehen will. Ihr Gesicht. Kerzen und Ave Marias. Nachdem Rigo beerdigt worden ist, bringt Pedro, Rigos Vater, Magdalena zur Grenze, damit sie ihren Sohn dort suchen kann.

    Valadez, die mit „Was geschah mit Bus 670?“ die Idee ihres Kurzfilms „400 Taschen“ weiterentwickelt, zeigt, wie schwierig es für Angehörige in Mexiko ist, jemand Vermissten zu finden und wie viele Steine einem dabei in den Weg gelegt werden. Magdalena muss eine Blutprobe abgeben, sieht Unmengen an Fotos von Kleidern und Gegenständen, auf denen sie dann auch den Rucksack ihres Sohnes erkennt. Leichnam gibt es aber keinen. Die Behörden wollen, dass sie trotzdem unterschreibt, dass ihr Sohn tot ist, aber so einfach macht es ihnen Magdalena nicht. Immer wieder trifft sie trotz der Gefahr und trotz des öffentlichen Schweigens auf Helfer, die sie der Spur, die sie vielleicht zu ihrem Sohn führen könnte, näherbringt. Sie kämpft und lässt nicht locker.
    Valadez vermittelt in ihrem Film viel Emotion durch indirekte Aufnahmen. Kleine Menschen, die vor einer großen Landschaft, die einem den Atem nimmt, aufeinander zugehen. Menschen, die von hinten und nur teilweise gezeigt werden, wenn sie miteinander sprechen. Unsichere Menschen, die offen sein wollen und gleichzeitig Angst haben müssen. Die Entfremdung der Menschen und die Angst vor der Begegnung mit der falschen Person zeigt sich in den gewählten Perspektiven, wenn die Kamera z.B. auf die Grashalme im Vordergrund scharfstellt, vor riesigen Strommasten in denen sich zwei kleine wandernde Menschen in einer so vereinsamten Natur begegnen. Da ist der Sonnenuntergang, der hinter zwei Köpfen im Auto vorüberzieht: Die Stille zwischen Pedro und Magdalena bei der Fahrt zur Grenze wird erst durch den Quasi-Akt der Gewalt eines vorbeifahrenden Autos gebrochen.

    Es sind sehr schöne und zerbrechliche Bilder, die einen durch den Film begleiten, eine überzeugende Mercedes Herandez in der Rolle der Magdalena, deren unbeugsamen Willen man an ihrem Gesicht ablesen kann. Sehr stark, wenn sie sich in der Szene am Busbahnhof, nachdem sie vergeblich den Fahrer gesucht hat, der den Bus ihres Sohnes an die Grenze fahren hätte sollen, in den Toiletten ihr Gesicht wäscht. Man fühlt sich mit ihr müde und abgekämpft vor den Mauern des Schweigens, die ihr überall entgegenkommen. Man möchte mit ihr aufgeben und schöpft mit ihr wieder Hoffnung.

    Kamerafrau Claudia Becerril Bulos filmt die Gesichter genau so präzise und empathisch wie verlassene Häuser, in die man durch Fenster oder Löcher hineinsieht. Sie rahmt die Dinge ein, man muss durchschauen, um etwas erkennen zu können, die Symmetrie der Bilder malt Gefängnisse, man darf nicht aufhören, genau hinzuschauen.
    Das Cello der Komponistin Clarice Jensen aus New York, die den Soundtrack zum Film gestaltet hat, begleitet und verstört den Zuseher in diversen Momenten. Das sind die Augenblicke des Films, in denen es keine Gewissheit gibt. Der Moment, wenn die Mütter vor den Beamten sitzen, die nur Stimmen sind, oder wenn der junge Mann Miguel, der Magdalena später im Film begegnen wird, von den amerikanischen Behörden zurückgeschickt wird in eine Heimat, aus der ihn seine Mutter weggeschickt hat, damit er es besser hat. Wenn er den Rücken vor ihm durch das Drehkreuz folgt, hängt die Cellomusik genau so zwischen hier und dort wie der Mensch im Niemandsland. Die ganz eigenen Celloklänge von Jensen, die elektronisch fremd wummern, lassen die ganze Palette von Angst, Unsicherheit und Entfremdung fühlen, die in dieser Heimat enthalten sind.
    Sehr stark und spannend bleibt der Film, obwohl er ruhig erzählt wird und die Zuseher auf seine Reise mitnimmt, bis zum Ende. Da überrascht die Regisseurin noch mit einer Wendung, die einen erneut in die Abgründe des Menschseins hineinführt, der Frage nach Gut und Böse, nach Überlebenswillen und den Grenzen des Moralischen.

    Das Ende trägt allerdings ein bisschen zu sehr auf und nimmt etwas von der Eindrücklichkeit, die den Film sonst durchgängig so präzise, beklemmend, leise und schön macht. Den Teufel, der die Entwicklung nicht nur symbolhaft ausdrückt, wenn er vor den Flammen die Hörner zeigt, finde ich als Symbol zu absolut. Vielleicht war aber auch genau die Absolutheit von Gut und Böse eine Idee, über die Valadez uns nachdenken lassen will, die Idee nämlich, dass das Böse einen jeden verführen kann, und man nicht immer selbst die Macht hat zu entscheiden, ob man der Verlockung widersteht.

    Wer das eindrucksvolle Porträt einer Mexikanerin, die auf der Suche nach ihrem Sohn alle Hebel in Bewegung setzt, sehen möchte und auf der filmischen Reise unterschiedliche Seiten und Landschaften Mexikos authentisch miterleben will, sollte sich „Was geschah mit Bus 670?“ unbedingt anschauen.
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    06.06.2021
    19:49 Uhr