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    Klassicher Wiseman mit Längen

    Exklusiv für Uncut von der ViENNALE
    90 Jahre ist Fred Wiseman inzwischen alt, und dennoch kommt so ziemlich jedes Jahr ein weiterer monumentaler Dokumentarfilm heraus, der sich mit den Bedürfnissen und Aufgaben innerhalb einer Gemeinschaft und Gesellschaft ergibt. „ExLibris“, „Monrovia, Indiana“ waren nur die jüngeren Beispiele, nun kehrt der Altmeister fast elliptisch an den Ort seiner Geburt, Boston zurück und zeigt, was sich alles in einem Rathaus abspielt. Wiseman begleitet dabei den Bürgermeister Marty Walsh, einen charismatischen Tausendsassa, der zu jedem Komitee, das er besucht, eine persönliche Geschichte hat.

    Wie gewohnt bietet Wiseman einen Blick durchs Schlüsselloch, ein an geduldige Beobachtungen gebundenes Verständnis der Arbeit eines Rathauses. Da sind nicht nur der Bürgermeister selber, auch die Infohotline, das Standesamt, das Veteranentreffen, die Sozialinitiativen, die gemeinschaftlichen Veranstaltungen, die Behörden für Diskriminierung und körperlich Beeinträchtigte.

    Wiseman zielt mit den viereinhalb Stunden Laufzeit diesmal auf größere Proportionen an, zeichnet nicht nur ein Bild einer in sich geschlossenen Institution, sondern einer ganzen Stadt, die durch die City Hall gestaltet wird. Das ist in sich ambitioniert, aber auch einer der Schwächen des Films. Wo „Ex Libris“ mit jeder neuen Szene lebendig und spannend wirkte, verliert „City Hall“ schnell an Schwung, da sich Wiseman offensichtlich diesmal weniger ans Schnittpult getraut hat. Viele Szenen ziehen sich zu lang, ganze Reden werden ungekürzt aneinandergestoppelt runtergerattert. Das nimmt den Film den Schwung und lässt einen doch gelegentlich mal auf die Uhr schauen.

    Letztendlich aber ist es ein schönes weiteres Paradeexemplar Wisemans, in der er seinen klassischen Themen Diversität, Progressivität, Mitgefühl, und gesellschaftlichem Miteinander wieder viel Raum gibt. Vor allem in Zeiten der Trump-Administration, der zwar von Mayor Walsh nicht namentlich genannt wird, dessen zynischer, neoliberaler Schatten aber stets im Hintergrund lauert. Ein etwas ernsterer Wiseman, und ein Appell an ein besseres Miteinander.
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    15.11.2020
    17:26 Uhr