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    Wunderbar schrulliges Plädoyer für Empathie und Menschlichkeit

    Exklusiv für Uncut von der ViENNALE
    Ein nahezu jeder Mensch benötigt ein gewisses Mindestmaß an Liebe und Zuneigung, um ein gesundes Leben zu führen. Was aber, wenn einem dieses über Jahre hinweg verwehrt bleibt – noch dazu aus dem eigenen Elternhaus? Fragen wie dieser geht Regisseurin Miranda July („Me and You and Everyone We Know“, „The Future“), die sich neben ihrer Tätigkeit als Filmemacherin auch als Autorin von Büchern und Kurzgeschichten sowie als Performance-Künstlerin einen Namen gemacht hat, in ihrem neuesten Werk mit dem extravaganten Titel „Kajillionaire“ nach.

    Die bizarre Tragikomödie erzählt die Geschichte einer dreiköpfigen Familie aus Trickbetrügern, die in Los Angeles beheimatet sind. Die Alltagsroutine von Richard (Richard Jenkins), Theresa (Debra Winger) und deren 26-jähriger Tochter Old Dolio (Evan Rachel Wood) besteht daraus, sich mit kleinen Gaunereien wie dem Fälschen von Schecks, dem Weiterverkauf von erschlichenem Ramsch oder auch kleinen Gelegenheitsjobs über Wasser zu halten. Die ergaunerten Beträge werden immer gerecht auf die drei Familienmitglieder aufgeteilt. All das soll ausreichen, um gerade mal so die Miete für ihre Unterkunft in einem heruntergekommenen Büro zu begleichen. Die Miete fällt jedoch nur so günstig aus, weil das ehemalige Büro sich neben einer Schaumfabrik befindet und jeden Tag zu einer bestimmten Uhrzeit rosafarbener Schaum aus der Decke quillt, der immer pünktlich beseitigt werden muss. Auf dem Weg zu einem Coup, bei dem ein angeblich am Flughafen verloren gegangener Koffer eine tragende Rolle spielt, lernen die drei die junge Frau Melanie (Gina Rodriguez) kennen, die sie schon bald in ihre „geheimen“ Betrügereien einweihen. Old Dolio, deren Eltern ihr nie notwendige elterliche Liebe schenkten und sie stets nur wie eine Komplizin anstatt eine Tochter behandelten, zeigt sich zunächst wenig begeistert von der Vierten im Bunde. Im Gegensatz zu Richard und Theresa, die Melanie vorgaukeln bessere Menschen zu sein, als sie eigentlich sind, besitzt die energiegeladene Frau aber ein hohes Maß an Empathie und versucht Old Dolio dabei zu helfen, all die Gefühle von Liebe und Zärtlichkeit, die sie in ihrem isolierten Lebensstil nie ausleben durfte, nachzuholen. Der kleinkriminelle Alltag der Familie wird dadurch auf den Kopf gestellt.

    Was auf Papier schräg klingen mag, ist in der Umsetzung sogar noch deutlich abgedrehter. Allein der routinierte gebückte Gang, den die Familie häufig verwendet, um sich an einem Zaun vorbeizuschleichen und so ihrem überemotionalen Vermieter zu entkommen, ist bereits herrlich absurd. Miranda Julys tragikomisches Werk, das als „Ocean’s 11“-esquer Heistfilm anfängt, sich aber zu etwas deutlich Gewagterem entwickelt, versucht sehr viel auf einmal. Die radikalen Tonwechsel und die surrealen Elemente (wie das plötzliche Auftreten von leichten Erdbeben) werden gewiss nicht für jedermann funktionieren. Im ganz eigenen Mikrokosmos des Films fühlen sich diese aber tatsächlich stimmig an. Unter all den bizarren Ideen verbirgt sich nämlich ein ungeahnt feinfühliges Porträt einer emotional verwahrlosten jungen Frau, die in ihrer toxischen und höchst-manipulativen Familienkonstellation nie wahre Liebe und Empathie erfahren durfte. Es ist äußerst wohltuend mitanzusehen, wie Old Dolio, die nach einem obdachlosen Lotto-Gewinner benannt wurde, sich mithilfe Melanies einfühlsamen Gemüts Schritt für Schritt emotional öffnet und sich von ihrem schädlichen Umfeld löst. Dementsprechend kann die Charakterstudie auch als Coming-of-Age-Film betrachtet werden, der sich jedoch einer bereits erwachsenen Frau widmet, die nie wirklich Kind sein durfte und die in ihrer Unschuld all die Dinge nachholen möchte, die ihr über Jahre verwehrt geblieben waren. Getragen wird das von einer sensationellen Evan Rachel Wood, die das sozial unbeholfene Gemüt und die emotionale Wandlung der Hauptfigur äußerst glaubhaft und mit einer angenehmen Prise Feingefühl darstellt. Ihr Counterpart Gina Rodriguez weiß ebenso zu überzeugen und die beiden entwickeln eine angenehm natürliche Chemie zueinander. Auch Richard Jenkins und Debra Winger verkörpern die emotional distanzierten und berechnenden Trickbetrüger/Eltern die sich vom System hintergangen fühlen mit überzeugend kalter Miene.

    Der tragikomische Film kann aber auch als Kapitalismuskritik gelesen werden. Anstatt just mit erhobenem Zeigefinger andauernd darauf hinweisen zu wollen, was für schlechte Eltern Richard und Theresa doch gewesen wären, zeigt Regisseurin July, das ein verkapptes System, in dem finanzielle Mittel unfair verteilt werden, an dieser Misere Mitschuld trägt. Die beiden Kleinkriminellen führen ihren Alltag ungefähr nach dem Motto „Freundlich ist nur der, der es sich leisten kann“, das auch wenn es sich später definitiv nicht als der richtige Weg erweist, mit Sicherheit einen gewissen Wahrheitsgehalt hat.

    Inszenatorisch beeindruckt die Tragikomödie dann am meisten, wenn musikalische Kniffe zum Einsatz kommen, und die emotionalen Barrieren der kalten Familienmitglieder aufgebrochen werden. Besonders imposant bleibt ein von diegetischer Pianomusik begleiteter Moment, in dem das Trickbetrüger-Quartett in die Wohnung eines im Sterben liegenden Mannes eindringt, der die Gauner darum bittet, vorzugeben, sie wären seine Familie. Für einen kurzen Moment herrscht die familiäre Idylle, die sich Old Dolio schon seit Ewigkeiten gewünscht hatte. Die Tragikomödie mündet in einen wundervoll zärtlichen Moment mit dem wohl passendst gewählten Schlusssong des Kinojahres.

    Miranda July hat mit „Kallijionaire“ ein sonderbares Werk geschaffen, das in seiner Schrulligkeit bestimmt nicht das gesamte Publikum für sich gewinnen wird. Wer sich aber auf die obskuren Einfälle der Tragikomödie einlassen kann, wird mit einer empathisch erzählten Charakterstudie über eine emotional unterdrückte junge Frau, die sich mithilfe einer zärtliche Frauenfreundschaft von den toxischen Lastern ihres Alltags befreit, belohnt werden.

    Amüsant, abgedreht, originell und angenehm feinfühlig: „Kajillionaire“ ist nicht nur einer der eigensinnigsten, sondern mit hoher Wahrscheinlichkeit auch einer der besten Filme des Jahres!
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    30.10.2020
    09:59 Uhr