1 Eintrag
1 Bewertung
80% Bewertung
  • Bewertung

    Totalitäre Regime glauben nicht an Wunder

    Exklusiv für Uncut von der Berlinale 2020
    Die polnische Regisseurin Agnieszka Holland ist mittlerweile einer der größeren Namen des europäischen Kinos. Ihre Oscar-Nominierung für das Nazi-Drama „Europa Europa“ liegt zwar schon ganze dreißig Jahre zurück. Doch gerade in den letzten Jahren veröffentlichte sie einige Festival-Lieblinge wie „Mr. Jones“ und „Pokot“.

    Auch ihr neues Drama „Charlatan“ ist aus dem Stoff, aus dem fremdsprachige Oscar-Träume sind. Der durch wahre Begebenheiten inspirierte Film handelt vom 70-jährigen Jan Mikolásek, einem tschechischen Wunderheiler, der hunderte Leute geheilt hat und zwar mit seinem Urinproben durchdringenden Blick, selbstgemischten Kräutersalben und seinen bloßen Händen, die wohl heilende Kräfte haben. Seine Gabe erregt Aufsehen und spricht sich herum, so zählt er zu seinen Patienten schon bald auch prominente Politiker wie etwa den Nazi-Offizier Martin Bormann oder den tschechischen Präsidenten Antonín Zápotocky. Als Heiler des Präsidenten lebt und arbeitet Mikolásek zwar unter dessen Schutz, doch nach dem plötzlichen Tod des Präsidenten, haben es die Kommunisten auf den Wunderheiler abgesehen. Er wird bezichtigt, ein Charlatan zu sein und kommt vor Gericht. Man will ihn dabei als Schuldigen sehen, egal wie viel Dreck man ausgraben muss.

    Besonders spannend ist dabei, dass es genug Dreck gibt. Der Wunderheiler ist nämlich eine sehr gespaltene Persönlichkeit. Einerseits wird er sich seiner Gabe früh bewusst und übernimmt auch die Verantwortung, die mit ihr kommt. „With great power comes great responsibility“ - Mikolásek ist also der Spider-Man unter den Männern in weißen Kitteln. Er schenkt sogar einer armen Frau Bargeld, damit sie mit ihrem kranken Kind ans Meer fahren kann. Den gleichen Mann sieht man in einer Rückblende als jungen Mann einen Sack voller Kätzchen gegen einen Felsen schleudern. Seine sadistischen Züge lebt er allerdings am liebsten an seinem Assistenten aus. Dieser steht dem alten Heiler schon seit Jahren loyal zur Seite, zum Teil aus Liebe zum ihm. Die beiden Männer verbindet eine homosexuelle Freundschaft, die Mikolásek nicht selten für sadistische Machtspielchen missbraucht.

    Die Haupthandlung spielt im Tschechien der 1950er und zeigt uns in zahlreichen Rückblenden, wie aus einem naturbewanderten Gärtnersohn ein Wunderheiler wird. Der junge und der alte Mikolásek werden übrigens von Ivan und Josef Trojan, im echten Leben Vater und Sohn, gespielt. Beide liefern ein intimes und ergreifendes Portrait des Wunderheilers. Aber nicht nur ihre großartigen schauspielerischen Leistungen machen den Film zu einer Sensation. Packende Bilder, schöne Kostüme, eine wahnsinnige Geschichte und eine zerschmetternde Liebe und Freundschaft machen den Film zu einem ungewöhnlich dichten Filmerlebnis. „Charlatan“ ist einer der Filme, deren Starttermin Corona-bedingt nach hinten verschoben werden musste. Es bleibt zu hoffen, dass Kinos neben Mulan und James Bond einen Platz im Spielplan für diesen sehenswerten Film machen.
    stadtneurotikerin_948f8a00d1.jpg
    02.06.2020
    20:26 Uhr