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    Rags to Riches

    Exklusiv für Uncut
    Der teilweise autobiographische Roman „Martin Eden“, der im frühen 20. Jahrhundert verfasst wurde, gehört zu den bedeutendsten Werken im Schaffen des respektierten US-amerikanischen Schriftstellers Jack London. Das Buch erzählt von einem jungen, ungebildeten Mann aus der Arbeiterklasse, der die Gunst einer Dame aus der Bourgeoisie erlangen möchten und dafür sein bisheriges Leben komplett umkrempelt. Nachdem sich in der Vergangenheit bereits verschiedenste Regisseure an Adaptionen des komplexen Stoffes bemühten, wagte sich nun auch der Italiener Pietro Marcello an eine Verfilmung des viel besprochenen Romans. Die Rahmenhandlung des Buches wurde für die neueste Leinwandadaption von England auf Frankreich verlegt. Der dabei entstandene Film durfte bereits 2019 im Rahmen der Filmfestspiele von Venedig seine Weltpremiere feiern und dort den heiß begehrten Coppa Volpi für den „Besten Darsteller“ mit nach Hause nehmen. Und eines schon vorweg: diese Auszeichnung hat sich die Literaturverfilmung zu Recht verdient.

    Im Mittelpunkt der Geschichte steht der titelgebende Martin Eden (Luca Marinelli), ein einfacher Seemann aus der Arbeiterschicht, der eines Tages einem jungen Herren aus einer brenzligen Situation hilft und als Dankeschön von dessen wohlhabender Familie zum Essen eingeladen wird. Dort lernt er erstmals die Familientochter Elena Orsini (Jessica Cressy) kennen, die Martin nicht nur mit ihrer Schönheit, sondern auch mit ihrer Bildung bezirzen kann. Die beiden verlieben sich ineinander, doch bevor Martin mit seiner neuen Geliebten den heiligen Bund der Ehe eingehen kann, verlangt diese von ihm eine Verbesserung seines sozialen Status. Um den eigenen Bildungsgrad zu erhöhen, entschließt sich der Arbeiter kurzerhand dazu, nochmal die Schulbank zu drücken. Später entscheidet sich der einstige Proletarier für eine Karriere als Schrifststeller. Der neue Karriereweg erweist sich als erfolgreich, birgt jedoch auch viele Schattenseiten. Eden fühlt sich politisch immer mehr zu den Ideen des Sozialismus hingezogen, die kaum mit den Idealen seiner aus der gehobenen Schicht stammenden Ehefrau vereinbar sind.

    Wie der Roman, der ihr zugrunde liegt, ist auch die Neuverfilmung des Stoffes ein vielschichtiges Werk voller feiner Beobachtungen. Regisseur Marcello erzählt die Geschichte als Jahrzehnte umfassendes Epos nach und umrahmt dieses mit großer Bildgewalt. Die farbenprächtigen, aussagekräftigen 16mm-Aufnahmen der Kameramänner Alessandro Abate und Francesco Di Giacomo laden zum Staunen ein und werden ab und an mit nicht immer klar zuordenbaren Archivaufnahmen kontrastiert. Kostüm- und Produktionsdesign sorgen hingegen für das nötige Flair, um das gehobene Volk Neapels aus dem frühen 20. Jahrhunderts glaubhaft darzustellen.

    Thematisch ist die Adaption des Romanklassikers nicht immer deutlich greifbar, zeichnet im Grundkern aber ein glaubhaftes Bild einer zerrütteten Klassengesellschaft. Edens Aufstieg vom einfachen Matrosen zum angesehenen Autoren mit politischen Ambitionen wird kraftvoll und erschütternd zugleich geschildert. Der Sprung vom Proletariat zum gebildeten Großbürgertum mag den früheren Seemann zwar vielen Türe geöffnet haben, öffnet ihm zur selben Zeit aber auch die Augen, wenn es um die soziale Blindheit der Reichengesellschaft geht. All diese Wehmut, die in der Figur des Martin Eden schlummert, wird, wie in einem spektakulären Drahtseitlakt, von einem durch und durch beeindruckenden Luca Marinelli getragen. Eine hingabevolle Schauspieldarbietung dieser Qualität bekommt man nicht alle Tage zu Gesicht.

    Pietro Marcellos lebhafte Neuverfilmung von Jack Londons „Martin Eden“ ist ein faszinierendes Klassenkampf-Epos, das in seiner betörenden Aufmachung anachronistisch und modern zugleich wirkt. Brisant, mitreißend und großartig gespielt!
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    30.08.2021
    21:17 Uhr