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    Märchen mit neuem Gesicht

    Exklusiv für Uncut von der Berlinale 2018
    Es wirkt etwas abstrus. Zig Menschen, die sich in einem Laden die Kleidung vom Leib reißen, um sich anschließend die besten Angebote zu schnappen. Gerangelt wird um Kleidung, Elektronik und alles andere, was der moderne Konsument als wichtig erachtet. Das Nacktsein ist die Vorgabe der Filiale. Unter ihnen ist auch Landei Jacek. Er ist der tragische Protagonist dieser Geschichte. Aber keine Sorge die Geschichte, „Twarz“ genannt, ist mindestens genauso süffisant und provokativ erzählt wie seine Eröffnungssequenz.

    Berlinale-Liebling Małgorzata Szumowska eröffnet mit ihrem neuesten Film eine Perspektive auf den ländlichen Südwesten Polens, nahe der deutschen Grenze. In träumerischer Optik und mit viel Kameraunschärfe und sich verlagernden Bokehs schafft sie eine märchenhafte Welt die aber, sobald man in sie eintaucht, ihre hässlichen Schatten bekommt. Hier wohnt Jacek, stolzer Außenseiter, Heavy-Metal Fan und Aspirant nach London zu gehen um dem kleingeistigen Landleben zu entkommen. Hier wird schon mal am Weihnachtsabend auf die Roma, Muslime und Juden geschimpft, sonntags brav in die Kirche gegangen und untertags an der größten Jesusstatue der Welt gearbeitet. Diese wird im Übrigen rein von den Spenden der Gemeinde finanziert.

    Auch Jacek spart sich seinen Fluchtgroschen mit Arbeiten auf der Baustelle zusammen, wenn er sich nicht gerade mit seiner Verlobten Dagmara über das Dorfleben lustig macht, mit ihr um die Häuser zieht und zu den Klängen von Gigi D’Agostino auf einem Pferd slow-mo durch die Felder reitet. Wer gedacht hat Euro-Disco könne kein Gänsehautfeeling verursachen, das ist dessen Film. Die Baustelle wird Jacek eines Tages aber zum Verhängnis, er stürzt das Gerüst herab. Wie durch ein Wunder überlebt er, braucht aber eine Gesichtstransplantation. Es ist die erste ihrer Art in Polen und Jacek, der sich schnell mit seinem neuen Aussehen anfreundet, der Held der Nation.

    Aber die Erleichterung währt nur kurz. Da sind noch die Kosten für die Medikamente, die der Staat nicht übernehmen will und auch die so fromme Gemeinde weiß plötzlich mit Nächstenliebe nichts mehr anzufangen. Nur die Schwester hält noch zu ihm. Für den Rest ist Jacek der Freak, die eigene Mutter bezeichnet ihn als Perversling. Sogar der Exorzist wird gerufen, dessen absurde Teufelsaustreibung Jacek erst amüsiert mitmacht bevor er die Gruppe anschreit ob sie denn verrückt geworden ist. Auch Dagmara möchte mit ihrem Freund, dessen Gesicht so anders ist, und der auch nicht mehr richtig deutlich reden kann, nichts mehr zu tun haben. Die Spenden in der Kirche bleiben aus, die Jesusstatute wächst weiter.

    Die Verbindung zwischen einer religiösen Statue und einer Gesichtstransplantation wirkt zuerst etwas abstrus. Szumowska hat aber den feinen Spagat gemeistert, hier einen tiefgründigen, kritischen und auch unterhaltsamen Film zu machen. Es sei eine Metapher für Polen, so die Regisseurin. Ein Land, in dem die Katholische Kirche noch eine wichtige Rolle spiele, in dem die Bevölkerung sich Neuem und Unbekannten gegenüber verschließt und nervös auf Kritik von außen reagiert. Jacek muss sich nicht selber finden. Er weiß wer er ist, es ist keine Selbstmitleidsgeschichte die hier erzählt wird. Es ist sein Umfeld, das Probleme hat und sich lieber altbekanntes in Stein gemeißelt vor die Haustür stellen lässt. Wie lange es daran noch festhalten kann ist die andere Frage.

    Die Jesusstatue gibt es übrigens wirklich, wie der Film verrät. In der Gemeinde Świebodzin stellt sie größentechnisch Rio de Janeiro seit 2010 in den Schatten. Von einem Arbeitsunfall beim Bau ist jedoch nichts bekannt. Im Endeffekt ist Szumowskas Film halt doch einfach ein schönes Märchen.
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    02.03.2018
    22:27 Uhr