Forum zu Readers

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    Zeile um Zeile

    Exklusiv für Uncut von der ViENNALE
    Vor kurzem stoß ich auf einen Artikel über James Benning, der diesen Regisseur als avantgardistischen Dokumentarfilmemacher beschrieb. Und es stimmt. Durch seine Methode der statischen, teilweise mathematisch genauen und weitgehend kommentarlosen Einstellungen verwandelt Benning das wahre Leben in eine Art Zeit-Skulptur, indem er der rigiden Form treu bleibt und nicht die dokumentaristischen Konventionen bemüht, die wir sonst aus Film und Fernsehen kennen. Das Ergebnis ist eine erfrischend direkte Perspektive auf unsere Umgebung, die Benning gewiss auch auf seine Studenten am renommierten California Institute of the Arts (CalArts) weitergibt.

    Obwohl er vielleicht vor allem durch seine Studien der Natur (z.B. „Ten Skies“ oder „13 Lakes“, beide 2004) bzw. urbanistischer Entwicklungen (z.B. „One Way Boogie Woogie“, 1977, und die Nachprüfung in Form von „27 Years Later“, 2005) in Erinnerung bleibt, widmet er sich auch immer wieder den Menschen und ihren individuell einzigartigen Zügen. Das tat er unter anderem in seinem 2011 erschienen Film „20 Cigarettes“ und das wiederholt er in seinem neuesten Werk, „Readers“, der sofort nach der Weltpremiere in Los Angeles auf der diesjährigen Viennale zu sehen war.

    Wie bei vielen seiner Arbeiten, kann man auch hier den Inhalt dem Titel entnehmen. In unterschiedlich langen Einstellungen – die jedoch immer in der Halbtotalen und im Interieur aufgenommen wurden – zeigt Benning vier Personen dabei wie sie ein Buch lesen. Genauer gesagt porträtiert er die Schülerin Clara McHale-Ribot, die Schriftstellerin Rachel Kushner, den Medientheoretiker und Soziologen Richard Hebdige und die Tänzerin und Choreografin Simone Forti. Sie sind Vertreter von vier unterschiedlichen Generationen und mit unterschiedlichem Background. Gemein ist ihnen jedoch die zutiefst menschliche Tätigkeit des Lesens. Worauf dabei ihre Aufmerksamkeit gerichtet ist, offenbart Benning in Form von Zwischentiteln, die nach jedem Segment folgen und eine kurze Passage aus dem jeweiligen Text zitieren. Das sind auch die einzigen Unterbrechungen im erzählerischen Fluss dieses Films.

    Wie Benning nach dem Film erläuterte, haben sich die Protagonisten die Bücher selbst ausgesucht. Zwei von ihnen dürften dabei ihr „Schauspiel“ in einem Film kommentieren, den sie wählten Bücher, die auch verfilmt wurden, nämlich „Women in Love“ (Roman von D. H. Lawrence, 1920; Film von Ken Russell, 1969) und „Mouchette“ (Roman von Georges Bernanos, 1937; Film von Robert Bresson, 1967). Abgesehen davon bemerkt man schnell die Verhaltensunterschiede. Rachel kann ihr Buch nicht loslassen, genießt anscheinend jede Seite. Richard blättert herum, wundert sich über das Geschriebene und sucht einen Zugang zum Text. Und Clara und Simone können sich beide sowohl psychisch als auch physisch nicht auf das Lesen konzentrieren, jedoch aus entgegengesetzten Gründen. Clara befasst sich wahrscheinlich mit einem Buch, das sie lesen muss, und wird darüber hinaus noch von ihren Nachbarn abgelenkt. Simone würde hingegen sichtlich nichts anderes lieber machen als in ihr Buch einzutauchen, sie wird jedoch von ihrem durch die Parkinson-Krankheit befallenen Körper verraten.

    Wer mehr über Bücher, Leser und damit verbundene Themen erfahren möchte, wird natürlich schnell systematischere und facettenreichere Werke finden. Ein gutes Beispiel lief ebenfalls auf der Viennale: Frederick Wisemans Dokumentarfilm „Ex Libris – The New York Public Library“ (2017). Benning hingegen bedient andere Vorlieben. Einige würden es vielleicht Voyeurismus nennen, ich bezeichne es als Neugierde. Wer sowohl auf andere Menschen, ihre Blicke, Gesten und Eigenarten als auch auf die eigenen Gedanken und Reaktionen während der Betrachtung neugierig ist, wird dieses Kino der Entschleunigung lieben.
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    02.11.2017
    15:22 Uhr