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    Ein Bild sagt mehr als 1000 Worte

    Exklusiv für Uncut von der ViENNALE
    Der neue Film von Jenny Suen und Christopher Doyle setzt den Fokus nicht auf eine ausgereifte Geschichte, sondern rückt stattdessen lieber die sich im filmischen Raum bewegenden Figuren ins richtige Licht. Das ist durchaus wörtlich zu verstehen. Als wir das White Girl, dessen Name wir nie erfahren, das erste Mal zu Gesicht bekommen, sehen wir sie von Kopf bis Fuß in sonnenbedeckender Kleidung, einem Regenmantel und Gummistiefel gekleidet. Abgerundet wird ihr Outfit durch einen riesigen Hut und einer Sonnenbrille, die mühelos fast zwei Drittel ihres blassen Gesichts bedeckt. Sie sitzt auf einem Sessel an einem perfekt ausgeleuchteten Steg in auffällig lässiger, sogar künstlich wirkender Pose, als würde sie sich gerade mental auf ein Fotoshooting eines stylischen Modemagazins vorbereiten. Doch der Grund für den besonderen Aufzug ist ihre Sonnenallergie.

    Ob das White Girl tatsächlich allergisch auf Sonnenstrahlung reagiert, ist, nachdem man den Vater als unaufrichtigen Lügenerzähler kennenlernt, schwierig zu beurteilen. Auch die Identität ihrer Mutter, an die das Mädchen kaum Erinnerungen hat – zu klein war sie, als die Mutter von ihnen ging – bleibt ein großes Mysterium, was den Geschichten des Vaters zu verschulden ist. Sie könnte einem tödlichen Sonnenallergieschock zum Opfer gefallen oder auch ein Hongkong-Megastar sein; wer weiß das schon so genau. Das White Girl schmückt sich vor ihren abendlichen Spaziergängen am Meer mit den Perlen und den aufreizenden, wenig verhüllenden Seidenhemden und -shorts ihrer abwesenden Mutter und zieht damit nicht nur alle Blicke der Dorfbewohner auf sich. Nachts ist sie frei und kann endlich ihre Schutzhüllen aus Stoff fallen lassen. Ein japanischer Künstler namens Sakamoto (Joe Odagiri), der sich in einer alten Ruine im Dorf abgeschottet hat, beobachtet das Mädchen durch die im Haus eingebaute Camera Obscura, die das Dorfgeschehen im Inneren abbildet. Der einzige Unterschied: Seine Blicke sind nicht verachtend. Er erkennt sich selbst in der verlorenen Seele des Mädchens wieder und eine spirituelle, nicht sexuelle, aber doch teils erotische Verbindung entsteht zwischen den beiden. Der kleine Ho Zai (Jeff Yiu) ist der dritte Outsider im Bunde, um den sich die Story dreht. Lauthals bewirbt er den lieben, langen Tag über den Mosquito-Schutz, den er verkauft. Zusammen mit dem White Girl und Sakamoto kommt er den sich als Touristen ausgebenden Bauherren auf die Schliche, die das letzte Fischerdorf Hongkongs in eine Goldmiene inklusive Luxusappartements und Entertainmentcenter verwandeln möchten.

    Kontrastreiche Auf- und Abblenden, blasse Farben und Dunkelheit trotz Sonnenschein durchziehen den Film, welcher weniger durch seine Geschichte, als durch seine Filmbilder besticht. Sie sind beeindruckend, meditativ, poetisch. Kameramann und Co-Director Christopher Doyle verzichtet auf wilde Kamerafahrten und setzt größten Teils auf statische Aufnahmen oder manipuliert die Bilder, indem er sie in Zeitlupe abspielt. Wenn die Kamera dann doch mal actionreicher eingesetzt wird, stocken oder verschwimmen die Bilder, sodass man das Gefühl hat, die eigenen Augen spielen einem einen Streich.

    Christopher Doyle ist vor allem durch seine Kooperationen mit Hongkong-Regisseur Wong Kar-Wai und seine poetischen Framings bekannt. Seine mühevoll angeordneten Filmbilder, in der alle Figuren und deren Bewegungen im filmischen Raum bis ins kleinste Detail durchdacht choreographiert werden, machen ihm zu einem der einflussreichsten und bedeutendsten Kameramänner unserer Zeit. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass auch „The White Girl“ einen durchaus performativen Charakter aufweist. Das bedeutet, dass die gezeigten Bilder im Vordergrund stehen, während das Befolgen einer narrativen Logik nebensächlich wird. Dies setzt allerdings voraus, dass die Zuschauerinnen und Zuschauer die Bereitschaft mitbringen, sich einem solchen Film auszuliefern. „The White Girl“ erzählt zwar eine Geschichte samt Subplot über das große Fragezeichen rund um das Schicksal ihrer Mutter, diese dient aber eher als Gerüst für eine halbwegs logische Vernetzung der Filmbilder. Die Story ist also austauschbar und die Intension des Films liegt nicht im „was“, sondern im „wie“ und „warum“ etwas gezeigt wird. Auf das „warum“ kommen wir nun abschließend zu sprechen.


    Auch wenn die Narration an sich, wie eben angedeutet, nicht wirklich viel Aussagekraft mit sich bringt, kann man den Film metaphorisch sehen und einen tieferen Sinn dahinter festmachen, als nur eine Story über ein blasses Mädchen. Wenn man sich „The White Girl“ nämlich in Bezug auf den politischen Hintergrund Hongkongs anschaut, kann man den Film als Metapher für die bedrohte Zukunft Hongkongs lesen. Denn noch ist Hongkong eine Sonderverwaltungszone von China mit einem hohen Maß an Autonomie, welche jedoch durch die schleichende Übernahme der Wirtschaft, der Presse, dem Fernsehen und sonstigen Medien seitens der chinesischen Regierung aus Peking immer mehr an Wert verliert. Das „White Girl“ muss beschützt werden und das letzte Fischerdorf Hongkongs muss sich zusammenschließen, um für dessen Existenz und Freiheit zu kämpfen und den Umwälzungsplänen der „Touristen“ standzuhalten.

    Manchmal ist der Inhalt des Gesagten eben nur halb so wichtig, wie der Grund warum es gesagt wird.
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    24.10.2017
    16:25 Uhr