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    Die Nacht ist schön. Die Nacht ist Frau.

    Exklusiv für Uncut von der ViENNALE
    Der Regisseur Louis Malle, Vertreter der Nouvelle vague, hat 1958 mit den Liebenden, seiner zweiten Arbeit mit Jeanne Moreau nach „Fahrstuhl zum Schafott“, ein Meisterwerk und einen für die damalige Zeit skandalösen Film geschaffen.

    Die Eröffnungscredits unterlegt er mit einer Landkarte, der Carte de Tendre, aus dem Roman „Clélie“ von Madeleine de Scudéry (1654-61). Der Weg durch dieses eingebildete Land der Liebe führt über bestimmte Stationen zum Herz einer Frau. Dabei soll der Verführende auf den gangbaren Wegen bleiben (Dankbarkeit, das Schreiben von Liebesbriefen, etc.), um das Herz einer Frau zu gewinnen, und sich vom See der Gleichgültigkeit (le lac d’indifférence), dem Meer der Feindschaft (la mer d’inimitié), dem gefährlichen Meer (la mer dangereuse) und den unbekannten Gefilden (les terres inconnues) fernhalten. Besonders die Leidenschaften sind gefährlich und führen an Orte, die man besser unergründet lässt.

    Auf diese Art lebt auch Jeanne (Jeanne Moreau) ihr Leben. Verheiratet mit dem Zeitungsverleger Henri Tournier, der wenig Zeit für sein Privatleben erübrigt, fühlt sie sich vernachlässigt, langweilt sich in der Provinz, und lässt sich in Paris von Raoul, einem sportlichen Playboy, verführen. Dennoch bleibt sie rastlos und unzufrieden. Etwas fehlt in der perfekten bürgerlichen Welt der Ehefrau, Hausfrau, Mutter und Geliebten. Auch die Pariser Szene, in der sie sich mit ihrer Freundin Maggy die Wochenenden um die Ohren schlägt, hilft ihr nicht dabei, sich erfüllt zu fühlen. Als ihr Mann, eifersüchtig geworden, sie nötigt, Raoul und Maggy aufs Land mitzubringen, fragt sie sich, als sie Raoul einlädt: „Wenn ich an uns zwei denke, bin ich immer unruhig. Ob das vielleicht die Liebe ist.“

    Doch alles ändert sich, als Jeanne eine Autopanne hat und ein Unbekannter ihr seine Hilfe anbietet. Der Archäologe Bernard (Jean-Marc Bory) irritiert sie nicht nur, sondern bringt sie auch zum Lachen, er hält sich nicht an Konventionen, beteiligt sich nicht am Small Talk, und gewinnt Jeanne genau dadurch für sich. Er zieht sie mit sich hinab in die Leidenschaften, tut genau das, wogegen die Bourgeoisie sich wehrt, was in den Kreisen, in denen Jeanne normalerweise verkehrt, verpönt ist. Als sich die beiden in der Vollmondnacht allein im Garten finden, verliert Jeanne alle Hemmungen. „Das ist ein Land, das Sie erfunden haben, damit ich mich darin verliere.“, haucht sie ihm ins Gesicht.
    Dass der Film 1958 ein Skandalfilm war, verwundert nicht. Bernard verführt Jeanne mit der Leidenschaft. Die Verlogenheit und Kälte der Welt der Bourgeoisie, in der alles aufgesetzt und nichts echt ist, hat einer solchen Passion nichts entgegenzusetzen. Nicht einmal die Liebe zur Tochter kann damit mithalten. Dass dieser Film die bürgerliche Weltsicht nicht nur in Frage stellt, sondern ihre Scheinmoral und Falschheit ganz offen lächerlich macht, war für Angehörige dieser Welt sicherlich ein Schock.

    In den Szenen, in denen Jeanne Moreau sich Jean-Marc Bory hingibt, ist eine Erotik, wie man sie in heute gedrehten Filmen selten findet, obwohl der Film nur andeutet. Jeannes Gesicht in Großaufnahme, wenn Bory sich ihrer Befriedigung widmet, enthüllt eine Frau, die dieses Liebesspiel genießt, die verführt, verwöhnt, gesehen wird, die sich ganz fallenlässt, sich in dem, was sie empfindet, verliert.

    Jeanne Moreau, Schauspielerin der Comédie-Française, später international als Filmschauspielerin bekannt geworden mit „Jules et Jim“ von F. Truffaut (1962), die dieses Jahr verstorben ist, wird nur all zu passend eine „Grande amoureuse“ (große Liebende) genannt. Sie führt uns von der unsicheren blasierten Ehefrau und Mutter zur leidenschaftlichen Liebhaberin. Der Zweifel an sich selbst, den sie auch dann noch spürt, als sie sich entschieden hat, bleibt nach dem Film im Zuschauer sitzen.
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    01.11.2017
    21:50 Uhr