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    Alltagsgeschichten, Heterotopie und Dialektik der New York Public Library

    Exklusiv für Uncut von der ViENNALE
    Frederick Wiseman zeigt in seinem neuen Dokumentarfilm „Ex Libris: The New York Public Library“ über drei Stunden lang Aufnahmen aus der viertgrößte Bibliothek der Welt: ohne Narrativ und ohne Kommentar, dennoch hat keiner der Zuseher bei der Viennale den Kinosaal frühzeitig verlassen. Ein Grund dafür ist, dass der Film auf drei verschiedenen Ebenen funktioniert und verschiedene Seh- und Lesarten zulässt, die es ermöglichen, das Interesse unterschiedlicher Arten von Zusehern gleichermaßen zu wecken.

    Auf der ersten und offensichtlichsten Ebene funktioniert der Film als Zeitdokument -besonders für die nachfolgenden Generationen, wenn Bibliotheken in ihrer heutigen physischen Form durch die liberale Marktwirtschaft (oder für Technikaffine: durch die Digitalisierung) verschwunden sein werden, wird „Ex Libris“ einer der wichtigsten Referenzfilme zum Thema Bibliothek sein.
    Seine Hauptdarsteller begeistern jedoch auch den heutigen Zuseher - Immer zärtlich und niemals herablassend zeigt Wiseman uns die Mitarbeiter, Besucher und Sonderlinge, die die Bibliothek frequentieren: einen jungen Mann, der besessen zum Thema Darmkrebs recherchiert, eine Gebärdenübersetzerin mit Hang zum Ausdrucktanz, einen Anrufer, der sich über die Existenz von Einhörnern erkundigt, asiatische Senioren mit schönen tonalen Sprachmelodien, Touristen, Schläfer und Nichtstuer.
    Der Film wird dabei zu keinem Zeitpunkt langweilig: Für den europäischen Zuseher ist der Nordamerikaner per se schon unterhaltsam in seiner Physiognomie und Eloquenz, mit seinen keywords und catch phrases, mit seiner rhetorischen Eleganz und dem Hang zur Hyperbel (Oh, fantastic!, als sich ein Freiwilliger zum Vorlesen meldet, that’s terrific! bei einem weiteren). Feinfühlig und respektvoll bringt uns Wiseman diese Menschen näher und schafft damit ein Zeitdokument in der Qualität von Elizabeth T. Spiras „Alltagsgeschichten“.

    Eine Ebene tiefer lehnt sich Wiseman in seinem Film klar an Michel Foucaults Konzept von der Bibliothek als Heterotopie an, also der Bibliothek als Ort wo mehrere Raum- und Zeitebenen zugleich bestehen, und mit der Kamera betritt der Zuseher Räume, in denen durch die dort gehaltenen Vorträge andere Zeitebenen wiederauferstehen und die Gegenwart überlagern, sodass wir uns als Zuseher beispielsweise in der Zeit des Sklavenhandels oder in den jüdischen Delikatessengeschäften der 1930ern wiederfinden.
    Eine Heterotopie ist nach Foucault vor allem aber auch ein Ort, in dem in besonderer Weise gesellschaftliche Verhältnisse reflektiert, negiert oder umgekehrt werden können und Wiseman will die New York Public Library klar als Bastion, als „Gegengift“ gegen das System Trump und dessen „darwinistisches Gesellschaftsbild“ (Wiseman) positionieren: „Trump ist das genaue Gegenteil von dem, was mein Film zeigt“, sagt er in einem Interview, „der Film repräsentiert das Beste an den USA, Trump das Schlechteste.“
    Der Film selbst unterläuft auf formaler Ebene aber im weiteren Verlauf Wisemans teilweise vereinfachende Interpretation und macht das Filmerlebnis für den Zuseher dadurch noch interessanter und facettenreicher.

    Während sich Wiseman der Hinterfragung der eigenen Position auf der Inhaltsebene entzieht (die beiden reflexiven Moment bei der Gebärdenübersetzung und beim Elvis Costello Interview sind ausschließlich formal und fallen eher oberflächlich aus), wird die Dialektik von Wisemans Aufklärung durch die Form evident: Der Film kreist um die verschiedenen Außenstellen, wo die Randgruppen bedient werden (the handicapped, the poor, the immigrants,...) und führt immer wieder zurück zum Zerebrum, zum Gehirn der Bibliothek, in ein Zimmer, wo eine kleine Gruppe Auserwählter (hauptsächlich weißer Hautfarbe) sitzt und alle Entscheidungen trifft - nach rein ökonomischen Kriterien. So legt der Film gegen den Willen des Regisseurs die strukturellen Ähnlichkeiten der Bibliothek zum verhassten System offen.
    Auch an den Stellen, wo die Rhetorik eines recruiters für den Grenzschutz in ihrer Plattheit desmaskiert werden soll (aber dann bei genauerer Betrachtung ganz der Rhetorik der gezeigten Positivbeispiele gleicht), wo bei einer Buchbesprechung in einem Lesezirkel nicht mehr das Buch selbst im Mittelpunkt steht, sondern die Eloquenz und die Selbstdarstellung der Rezensenten, oder wo massenweise gratis W-LAN-Router an Bedürftige verliehen werden, beginnen wir als Zuseher zu hinterfragen.
    Wo Selbstreflexion und Systemkritik fehlt, wo Kunst, Geschichte und Politik zur Unterhaltung oder zum Selbstzweck werden und ihr kritisches, revolutionäres Potential verlieren, dort zeigt sich die Dialektik der Bibliothek, die zwischen Bildung dem Konzept „Brot und Spiele“ oszilliert.
    Bezeichnenderweise sind im Film immer wieder Außenaufnahmen montiert. Man sieht die Ruhe draußen, die Ordnung auf den Straßen und dem Zuseher wird klar: Was auch immer in all den Räumen und Zweigstellen der Bibliothek diskutiert wird, es kann die Herrschaftsverhältnisse nicht verändern, mehr noch: es ist Teil vom Problem.

    „Ex Libris“ ist trotzdem oder gerade deshalb sehenswert und an manchen Stellen klüger als sein Regisseur.
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    30.10.2017
    10:57 Uhr