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    Coming-of-Age auf Französisch

    Exklusiv für Uncut von der ViENNALE
    Als Paula (Laetitia Dosch) von ihrem Ex-Partner Joachim, einem gefeierten Fotografen, aus der gemeinsamen Wohnung in Paris geschmissen wird, steht sie vor dem Nichts. Während den zehn Jahren ihrer Beziehung hatte Paula keinerlei Kontakt zu ihren Eltern, und auch die Freunde scheinen nach dieser Zeit nicht auf ihrer Seite zu stehen. Mit ihrer neugewonnenen Freiheit, die sie eigentlich gar nicht will, weiß sie nichts anzufangen. Notgedrungen kommt sie in einem Hotel unter, bevor sie wegen diverser Regelverstöße – weder das Rauchen noch das Halten von Haustieren wird im Zimmer geduldet – weiterziehen muss. Aus Geldsorgen versucht sie ihre Ohrringe und andere Schmuckstücke zu verscherbeln, jedoch ohne großen Erfolg. Schließlich findet sie eine Stelle als Kindermädchen, wo sie auch ein kleines Zimmer bewohnen kann, sowie als Mitarbeiterin in der Unterwäsche-Abteilung eines Kaufhauses.

    Paulas Versuche, ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen, sind gelinde gesagt kreativ. Sie ist eine Chaotin, die sich ein bisschen durchs Leben schummelt. Schon zu Beginn des Films stiehlt sie einen (roten) Mantel aus dem Krankenhaus, der sie – gemeinsam mit ihrer roten Haarpracht – in jeder Aufnahme hervorstechen lässt. Auch die Perserkatze ihres Ex will sie zunächst nicht zurückbringen, obwohl sie ihr mehr Probleme als Freude bereitet. Paula lässt die Situationen einfach auf sich zukommen, und wehrt sich oftmals nicht gegen sie. Das wird auch in einer Szene in der Pariser Métro klar: Dort trifft sie Yuki, die glaubt in Paula ihre ehemalige Mitschülerin wiederzuerkennen (wie oft trifft man schon jemanden, der zwei verschiedenfarbige Augen hat?), und Paula steigt kurzerhand auf das Missverständnis ein und freundet sich mit Yuki an.

    Doch im Laufe des Films entwickelt sich Paula, nach dem klassischen Coming-of-Age-Prinzip, von einer hysterisch kreischenden, gegen die Tür hämmernden, verzweifelten Frau, die von einem Problem ins nächste stolpert, in eine ruhigere, gelassenere Person, die sich ihren Pflichten bewusst ist.

    Das Langfilmdebüt von Léonor Serraille hat schon dieses Jahr in Cannes zu Recht alle Aufmerksamkeit auf sich gezogen und der Regisseurin die „Camera d’or“, die Auszeichnung als bestes Regiedebüt, eingebracht. Serraille arbeitete mit einer fast ausschließlich weiblichen Crew, welche die Geschichte um die jeune femme Paula perfekt filmisch umsetzt. Klischeefrei und unterhaltsam sorgt das Drehbuch auch für einige Lacher; den größten als Paula meint sie ist 31, und das sei fast schon 40.

    Die Rolle der temperamentvollen Paula, die mit ihren langen roten Haaren, dem roten Mantel und einer Platzwunde auf der Stirn auch optisch eine wahre Titelheldin ist, ist Laetitia Dosch wie auf den Leib geschnitten. Sie verkörpert Paula mit einer Authentizität und schafft es, die laute, energetische junge Frau den Zusehern auch sympathisch zu machen. Keine leichte Aufgabe, denn durch ihre teils fragwürdigen Handlungen und kreativen Lösungsversuche macht es Paula uns nicht leicht zu verstehen, was in ihr vorgeht.

    Die „jeune femme libre“, die eigentlich gar nicht frei sein will, steht zu Beginn des Films am Ende. Doch jedes Ende ist auch ein neuer Anfang – und wenn Paula sich in der letzten Szene zum Fenster dreht und man endlich ihre verschiedenfarbigen Augen (eines braun, eines grün) erkennen kann, ist auch sie bereit für ihren Neuanfang.
    01.11.2017
    21:27 Uhr