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81.3% Bewertung
  • Bewertung

    Lieblos

    Der Film ist eine einzige Anklage an die Eltern Zhenya (Marjana Spiwak) und Boris (Alexei Rosin), die sich unentwegt verbal zerfleischen und sich ständig nur um sich selbst drehen. Hier ist Zhenya die Giftspritze, die unbedingt die Scheidung will. Boris verteidigt sich nur, wenn er in eine Ecke gedrängt wird. Leidtragender ist der kleine Aljoscha (12) (Matwei Nowikow). Weil er die ständigen Streitereien der Eltern mitanhören muss, begreift er, dass er ungewollt und ungeliebt (Titel) ist. Also verschwindet er auf nimmer Wiedersehen. Nach unseren Sehgewohnheiten sind wir es gewöhnt, dass ihn Polizei und freiwillige Helfer nach ein paar Tagen finden. Hier bleibt Aljoscha verschwunden. Selbst in der Not der Angst verbünden sich beide Eltern nicht.
    Jeder orientiert sich anderweitig neu und ändert sein Verhalten nicht. Boris hat ein Baby, das ihn nervt. Er knallt es in den Laufstall und auch Zhenya macht weiter Karriere. Das Laufband scheint ihr wichtiger zu sein als Kinder.
    Es ist eine trostlose, kalte Welt. In seiner Kameraführung und Bildeinstellung erinnert Regisseur Andrey Swjagintzew an Tarkowski, dem der Plot sicherlich gefallen hätte.
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    14.05.2020
    18:02 Uhr
  • Bewertung

    Kalte Welt

    Exklusiv für Uncut von der ViENNALE
    Ein verschneiter See, umgeben von verschneiten Bäumen. Riesige Betonbauten zeichnen sich in der Ferne ab. Die Kamera fängt diese Landschaft in einigen ruhigen und kalten Einstellungen ein. Die Bilder setzten den Grundton für den Film, ihre Relevanz offenbart sich dem Zuschauer später. Andrei Swjaginzew ist bekannt für Filme, die Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung porträtieren. Letztes Jahr gewann er den Preis für das Beste Drehbuch in Cannes für sein Werk „Leviathan“, dieses Jahr bekam er in Cannes für diesen Film den Jurypreis. „Nelyubov“ (Loveless), die Geschichte einer grausamen Scheidung und ihre Folgen für das gemeinsame Kind, brachten Swjaginzew heuer den Jurypreis in Cannes ein.

    Zhenya (Marjana Spiwak) und Boris (Alexei Rosin) waren über ein Jahrzehnt unglücklich verheiratet. Nach 12 Jahren ist endgültig Schluss und keiner der beiden kann es erwarten endlich den anderen los zu werden. Zhenya hat einen neuen Freund und Boris überlegt bereits seine schwangere neue Freundin zu heiraten, da seine Firma streng christlich-orthodox ist und er als unverheirateter Mann gefeuert werden würde. Alyosha (Mawei Nowikow) ihr gemeinsames Kind und der Grund warum sie überhaupt geheiratet haben, tritt bei dieser Scheidung in den Hintergrund. Keiner der beiden will sich um ihn kümmern. Der Vater meint, er braucht eine Mutter, die Mutter meint, mit 12 braucht er einen Vater. Wahrscheinlich wird es das Internat werden. Als Alyosha ein Gespräch, in dem es um seine Zukunft ging, belauscht, entschließt er sich zu verschwinden. Ein Tag vergeht, bis einer der beiden überhaupt bemerkt, das Alyosha verschwunden ist. Sie machen sich auf die Suche, während wir durch die Fenster der Wohnungen sehen wie der Schnee fällt.

    Swjaginzew zeigt in simplen aber durchdachten Einstellungen, wie sehr der Alltag von Lieblosigkeit durchdrungen ist. Lieber beschäftigt man sich mit dem Handy als mit dem Kind, in der Küche läuft ein Fernseher, beim Mittagstisch wird auf das Kantinentablett gestarrt und dem Fernseher wird apathisch gelauscht während das Baby spielen will. Die Charaktere verhalten sich egoistisch und eisig, hinter den meisten Sorgen verstecken sich Kalkül und die eigenen Interessen. All das macht es noch viel intensiver, wenn uns Swjaginzew für kurze Momente die ehrlichen Begierden und Sehnsüchte seiner Protagonisten zeigt. Er und der Kameramann, Michail Kritschman, zeigen sich über große Strecken selbst sehr kühl und distanziert in ihrer Bildsprache, bringen jedoch gleichzeitig in einigen essentiellen Einstellungen, sehr viel Verständnis und Empathie für ihre Charaktere auf.

    Die Bilder zeugen von einer faszinierenden Schönheit, die jedoch immer mit einem bitteren, tragischen Geschmack einherkommen. Kritschman arbeitet auch meisterhaft mit dem Licht und erzeugt Einstellungen und Bilder, die unter die Haut gehen. Fenster werden bei ihm ein Blick in die Seele derer die durch sie hinausschauen. Ohne Kontext würden seine verschneiten Stadtlandschaften vielen wahrscheinlich sogar sehr gut gefallen, als Zuschauer kann man nur daran denken, dass irgendwo da draußen ein Kind unter den fallenden Flocken sitzt.

    Swjaginzew inszeniert diesen Film schmerzhaft und unangenehm zum Anschauen. Man ist ohne Zweifel gespannt und bewegt, aber man leidet auch unter der Kälte, die in diesem Mikrokosmos herrscht. Gleich eine der ersten Szenen, in denen Alyosha das Gespräch seiner Eltern mitbekommt, ist meisterhaft inszeniert und beinhaltet eine emotionale Wucht die man so nur selten sieht.

    Zu Beginn hört man in einen Radiosender von der steigenden Angst vor einem Weltuntergang, wie er durch die Mayas für 2012 vorhergesagt wurde. „Loveless“ bedient sich teilweise demselben visuellen Vokabular, wie postapokalyptische Filme, wenn wir Schutt, verlassene Häuser und einsame Wälder gezeigt bekommen. Der Film macht klar, dass der emotionale Untergang schon längst über uns gekommen ist.
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    02.11.2017
    14:14 Uhr