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    Über die Vielfalt des Kinos und den Schmerz der Erinnerung

    Exklusiv für Uncut von der ViENNALE
    21 Jahre, acht Monate und sechs Tage – so lange ist Carlotta (Marion Cotillard), die Frau des Filmemachers Ismael (Mathieu Almaric) verschwunden, bis sie völlig unerwartet wieder auftaucht und zu ihm zurück kehren will – in sein Leben, das seit ihrem Verlassen durchzogen ist von Ungewissheit, Trauer, Alpträumen und Verzweiflung. Schließlich ist Carlotta damals gegangen ohne ein Wort des Abschieds, ohne eine Nachricht zu hinterlassen - als Ghosting wird diese Art, eine Beziehung zu beenden heutzutage bezeichnet. Carlotta hat sich aus dem Staub gemacht, nur ihr Geist ist zurückgeblieben und überschattet seit je her Ismaels Leben, seine Arbeit als Regisseur und sein Verhältnis zu Frauen, vor allem das zu seiner neuen Liebe Sylvia (Charlotte Gainsbourg). Das plötzliche Auftauchen seiner Ex-Frau stürzt den Regisseur in eine unvermeidliche Krise. Die Dreharbeiten zu seinem gerade begonnenen Film geraten ins Wanken und Ismael scheint mit dem Dilemma konfrontiert, sich zwischen zwei Frauen in seinem Leben entscheiden zu müssen, zwischen den Geistern der Vergangenheit und seiner Zukunft.

    Arnaud Desplechin spielt mit unterschiedlichen narrativen, zeitlichen und fiktionalen Ebenen und versucht mehrere Geschichte in einer zu vereinen: es geht um die Liebesgeschichte zwischen Carlotta und Ismael, gleichzeitig aber auch, mittels Rückblenden erzählt, um die Liebe zwischen Sylvia und Ismael. Dann wiederum geht es um die Entstehung von Ismaels neuem Film und um die diegetische Spionagegeschichte des Films selbst; eine Film-im-Film- Ebene, die nach und nach mit den anderen narrativen Strängen verschwimmt. Eine verschachtelte Täuschung von Realität, Fiktion und Traum entsteht daraus, die Desplechin inhaltlich auf die unterschiedlichen Geschichten übertragt: Ismael verliert sich in dem Wirrwarr, das sich aus seinem Liebesleben, seinen Alpträumen und seiner eigenen Dichtung gesponnen hat, was mitunter zu skurrilen Vorfällen führt und zur kurzweiligen Parodie von Ismael als wahnwitzigem, tragisch-verbissenem Künstler. Durch diese unterschiedlichen Narrationen werden zudem unterschiedliche Genremuster erkennbar, die zwar ineinander greifen, gleichzeitig Elemente der Komödie, des Spionagefilms und des klassischen Dramas nahezu exemplarisch ausstellen. Auch perspektivisch versucht Desplechin viel miteinander zu vereinen und schöpft aus dem großen filmtechnischen Repertoire. Schnelle, hektische Szenenwechsel weichen langen, statischen Aufnahmen, die wiederum von Großaufnahmen oder wackligen Handkamerabildern abgelöst werden – all diese narrativen und technischen Verfahren bergen viele unterschiedliche Referenzen zur Filmgeschichte und wirken insgesamt wie eine Hommage an die Vielfalt der Filmkunst selber: Dass „Les Fantômes d’Ismaël“ der Eröffnungsfilm der Filmfestspiele von Cannes in diesem Jahr gewesen ist und auch bei der diesjährigen Viennale als einer der ersten Filme gezeigt wird, mag vermutlich also kein Zufall sein.

    Inhaltlich führt all das letztendlich dazu, dass der Film den Fokus verliert und es zu paradoxen Empfindungen und Längen kommt: Es passiert sehr viel, vielleicht zu viel, sodass gleichzeitig wenig passiert. Die einzelnen Geschichten lösen sich in Nichts auf und finden weder zueinander noch für sich selbst einen Abschluss. Das Ende von Ismaels und Sylvias Liebesgeschichte wird von Sylvia selbst, dem Publikum direkt zugewandt, zusammengefasst erzählt, fast so, als wäre es ohnehin nicht relevant und müsse lediglich kurz erwähnt werden. Spätestens dieses Ende macht deutlich: „Les Fantômes d’Ismaël“ ist ein Film über das Filmemachen selbst, die narrativen Handlungen erscheinen nur als Rahmen für kunst- und filminterne, fachspezifische Anspielungen, Verweise und Referenzen, die zu einer Huldigung des Kinos zusammenschmelzen und unzählige filmgeschichtliche Geister heraufbeschwören. Aus dieser Perspektive bietet Desplechins Films durchaus interessante und unterhaltsame Ideen. Inhaltlich bleibt dabei jedoch Vieles auf der Strecke – das ist schade und enttäuschend, denn dadurch bereitet der Film insgesamt doch nur ein sehr kurzweiliges Vergnügen.
    23.10.2017
    13:16 Uhr