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88.8% Bewertung
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    Der gemeinsame Traum

    Was für ein großartiger Film! Für anspruchsvolle Zuschauer zum Zunge schnalzen. Hier stimmt einfach alles. Vom Titel bis zum Abspann, vom Score bis zu den Darstellern. In ein gedankliches Konstrukt vom Feinsten ist die ungewöhnlichste Liebesgeschichte der Leinwand eingebettet. Und Kameraführung, Schnitt und die ganze Technik tun ein Übriges, um uns von Anfang an in einen emotionalen Strudel mit hinein zu ziehen, aus dem wir erst durch ein unerwartetes Happy End erwachen. Das Fantastische dabei ist, dass wir uns in Sphären bewegen, die sonst nur durch Psi und Metaphysik besetzt sind. Hier wird dieses Phänomen aber so abgehandelt, als sei es das Natürlichste der Welt:
    Maria und Endre haben denselben Traum: Ein Hirsch und eine Hirschkuh im Winterwald. Sie lernen sich erst kennen, als im Betrieb, in dem sie arbeiten, ‘Unregelmäßigkeiten‘ vorkommen. Eine Befragung durch eine aufreizende Psychologin bringt den gemeinsamen Traum ans Licht. (Mit verschämt netter Komik.)
    Maria ist eine autistische Qualitätsprüferin, Endre leicht behindert der Finanzdirektor: zwei Außenseiter also.
    Geschickt geschnitten wechselt die Szene vom idyllischen Winterwald zum brutalen Vorgang im Schlachthof, in dem beide arbeiten. Hirsch und Hirschkuh begegnen sich und trinken gemeinsam in einem Bach. Ihre Nasen berühren sich. In der Realität treffen sich Maria und Endre. Gemeinsames Einschlafen zwecks gemeinsamem Träumen gerät zum Fiasko. Maria fürchtet Berührungen. Wie sie die versucht zu überwinden und als sie es fast geschafft hat und durch Endres Absage einen Suizidversuch macht, geht unter die Haut, so wunderschön auch die Bilder dazu sind.
    In dem Zweipersonenstück – mit wenigen deftigen Nebenrollen - überzeugt vor allem Maria (Alexandra Borbely). Mit leerem Blick stakst sie wie in Trance linkisch durch die Welt. Endre (Geza Morcsanyi) ist als Chef eher etwas geerdet aber auch unbeholfen und unsicher. All das wird durch die sexuelle Erfüllung erlösend beseitigt, auch der gemeinsame Traum. Selten war der Goldene Bär so verdient für ein Beinahe-Debüt von Ildiko Enyedi. Chapeau!
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    28.09.2017
    12:35 Uhr
  • Bewertung

    Poesie am Schlachthof

    Exklusiv für Uncut von der Berlinale 2017
    Es sind zwei einsame Seelen, die sich auf einem Budapester Schlachthof über den Weg laufen. Es sind aber auch zwei Seelen, die im Geiste und im Traum miteinander verbunden sind. Endre ist sofort fasziniert von der jungen, zurückhaltenden Maria, die gerade ihre Stelle als Qualitätsmanagerin angetreten hat. Während die anderen Mitarbeiter nichts mit ihr anzufangen wissen, sucht er den Kontakt, nur um an ihrer nüchternen und wenig verbindlichen Art zu scheitern.

    Doch dieser gescheiterte Versuch einer Annäherung ist nur der Auftakt einer langsam sich entfaltenden Liebesgeschichte zwischen den beiden. Nach einem mentalen Gutachten der Belegschaft durch eine Psychologin erfahren die beiden, dass sie sich schon mehrmals begegnet sind. Nicht im realen Leben, sondern in ihren Träumen. Die Erfahrung löst bei ihnen keinen Schock aus, vielmehr macht es sowohl Maria als auch Endre neugierig aufeinander. Sie versuchen, ihre Träume in die Wirklichkeit zu transferieren.

    Regisseurin Ildikó Enyedi wollte mit ihrem neuesten Film ein poetisches Werk schaffen. Ziel war es, eine Geschichte zu erzählen, die starke Gefühle hinterlässt. Ihre beiden Hauptcharaktere seien, erzählte sie bei der Pressekonferenz, ganz plötzlich in ihrem Kopf aufgetaucht, gemeinsam mit der seltsamen Idee, die beiden durch ihre Träume im Geiste miteinander zu verbinden. In dieser Welt treffen Endre und Maria als Hirsch und Reh in einem verschneiten Wald wiederholt aufeinander. Die Interaktion der Tiere reflektiert den emotionalen Zustand der beiden. Manchmal rennen sie gehetzt durch den Wald, ein anderes Mal berühren sich zärtliche ihre Nasen.

    Im Gegensatz dazu stehen die Rinder, die die Mitarbeiter im Schlachthaus jeden Tag verarbeiten. Enyedi inszeniert die Rehe als einen Ausdruck der inneren Freiheit, wohingegen die eingesperrten Kühe, die still und dicht gedrängt auf ihren Tod warten, Befangenheit ausstrahlen. Die Kamera fokussiert dabei immer auf die Augen der Tiere, ihre Bewegungen, die detailliert mit einem Tiertrainer am Set einstudiert wurden. Fast menschlich wirken sie. Umso brutaler erscheint es unmittelbar danach, wenn Enyedi ihren Kameramann filmen lässt, wie die Kühe in der Fabrik verarbeitet werden. Blut klebt an den Wänden, Köpfe werden abgeschnitten, Körper an langen Haken aufgespießt.

    Der Film spielt nicht nur mit den Blicken der Tiere, auch die Figur der Maria wird über kleine Gesten und Eindrücke charakterisiert. Maria ist ihrem Umfeld gegenüber so verschlossen, dass sich ihr Innenleben nur über den Gesichtsausdruck und die Augen entschlüsseln lässt. Wenn sie sich bedrängt fühlt, greifen ihre Finger nach dem nächstbesten Gegenstand um sich festzuhalten. Es sind auch diese Finger, die im Laufe des Films Berührungen erlernen und wertschätzen. Ein Teller Kartoffelbrei oder das Fell eines Stoffpanters dienen dabei als Mittel zum Zweck.

    Es ist ein verträumtes Werk, das von seiner märchenhaften Mis-en-scène lebt und von der Darbietung seiner Darsteller, allen voran Alexandra Borbély. Ein geglückter Spagat zwischen minimalistischer Inszenierung und optischer Bildgewalt.
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    13.02.2017
    22:42 Uhr