Exklusiv für Uncut
Spielzeugklassiker, Mode-Ikone, Körperkult – die Barbie des Herstellers Mattel ist eine der erfolgreichsten Puppen der Welt. Geliebt und gehasst zugleich. Nicht nur von feministischer Seite wegen des schlankheitswahnsinnigen Aussehens deutlicher Kritik ausgesetzt. Sie nimmt Influencer-Beauty-Content vorweg und ja, mit Barbara Millicent Roberts hat die Puppe sogar einen richtigen Namen. Auch den Film begleitete ein gigantischer Marketing-Hype, niemand kam daran vorbei, Barbie hat laut Studien in Deutschland einen Bekanntheitsgrad von 100%. Diverse Firmenkooperationen, Premieren in nachgebauten Barbie-House-Sets (in Berlin jedoch wegen des Streiks in der Hollywood-Filmbranche ohne der Anwesenheit der Stars). Ein Hommage-Teaser mit blasphemisch-augenzwinkernder Barbie als berühmter Monolith im Stile von „2001: A Space Odyssey“. Die gesichtete Hot-Skatin-Barbie-Margot-Robbie auf Inlinern am Strand von LA. Ein wasserstoffblonder Waschbrett-Ryan-Gosling in den Lifestyle-Gazetten. Ganz zu schweigen vom Barbenheimer-Phänomen mit Bezug auf den gleichzeitig erscheinen Nolan-Streifen „Oppenheimer“. Wird „Barbie“ diesem Wirbel, diesem Spektakel, dieser einzigarten Marketing-Kampagne gerecht?
Greta Gerwigs dritte Spielfilminszenierung (nach „Little Women“ und „Lady Bird“) führt uns in die allzu perfekte Barbie-Welt voller Rosa-Schlaraffenland-Kitsch, Kostüm-Overflow und Plastik-Detailreichtum. Everybodys und anybodys Darling Margot Robbie und Ryan Gosling verlassen als Stereotype-Barbie und Beach-Ken die kunterbunte Lollipop-Utopie und begeben sich in die reale Welt. Dort konfrontiert sie die Realität eines inversen Gesellschaftsgefüges: Männer sind die gesellschaftliche Speerspitze, Frauen nur Beiwerk und Sexobjekt, Barbie wird nicht nur vergöttert. Schließlich kehren beide zurück und es kommt zu existentiellen Showdowns in der Barbie-Welt…
Und was für eine Welt das ist! Weil Barbie in den 1950er erfunden wurde, gestaltet Gerwig mit ihrer Kostümdesignerin (Jacqueline Durran) und Szenenbildnerin (Sarah Greenwood) ein hyperkünstliches Universum im Stile der damaligen Zeit. Mit umwerfenden Outfits und handgemachten Attrappen anstelle von Greenscreens. Amüsante Beispiele der kleinen Ausstattungskunstwerke: Zahnpasta aus rosa Plastik, ein Miniatur-Barbieland, eine Rutsche vom Schlafzimmer in den Pool, in dem natürlich kein Wasser schwimmt, ein Barbie-Mount-Rushmore, eine pinke Barbie-Freiheitsstatue. Es ist pure Freude, reale Menschen in diesen Plastik-Puppenhäusern zu sehen. Mehrfach wird man „Barbie“ bestaunen, um alles zu entdecken.
Weiter geht der visuelle Einfallsreichtum mit der puppen-authentischen Bewegung der Figuren: schon im Trailer sieht man Margot Robbie mit gestreckten Füßen, an die nur High Heels passen. Beine werden nie durchgedrückt, spreizen sich zügig zum Spagat auseinander. Barbie lebt das Leben in der Form, wie Kinder mit ihr spielen. Sie putzt sich nur scheinbar die Zähne, aus der Dusche kommt kein Wasser und sie geht niemals die Treppen in ihrem Haus herunter, sondern „fliegt“ zur nächsten Szenerie. Eine Augenweide sind Frisuren und insbesondere die Farbpaletten. Gerwig spricht von verschiedenen Pink-Nuancen, leuchtenden Farben, geometrischen Formen.
Trotz der überaus sehenswerten Aufmachung verliert sich der Film nicht in diesen Details. Man sieht sich daran nicht müde. Denn „Barbie“ besticht ebenso durch einen Cast mit den verschiedensten Varianten der beliebten Puppen. Kate McKinnons „Weird Barbie“ ist von Kindern mit Stiftbemalung und wilder Frisur verschandelt. Zu Grunde liegen der biographische Kanon und das Sortiment von Mattel. Klingt absurd, doch es existiert eine offizielle Geschichte des Barbieversums: Michael Cera spielt Kens besten Freund Allan. Eine hochinteressante geschlechtsneutrale Figur in dieser extrem binären Welt. Simu Liu ist ein Ken asiatischen Phänotyps, Issa Rae eine Barbie for President, außerdem gibt’s Barbie als Ärztin, Physikerin, Richterin, Journalistin und Meerjungfrau (Dua Lipa). Alle Varianten verkaufte Mattel in der Realität, der Film reproduziert das Warensortiment gründlich und spielt die moderne Klaviatur neoliberaler Vermarktung identitätspolitischer Inhalte. Bedient wird damit auch das Multiversum als zentrales Narrativ aktueller Blockbuster. Will Ferrell als Mattel-CEO und Sidekick spielt keine bedeutende Rolle.
Doch das war noch nicht alles. Neben Ausstattung und Sets, Visualität und gut aufgelegtem Cast tragen Ryan Gosling und Margot Robbie diese filmische Expedition. Während Robbie eine solide, mitfühlende Performance liefert, ist Ryan Gosling lights on! Sein Gesang, seine Tanzeinlagen, vor allem seine Mimik, sein Witz, sein Charme, wenn er die Realwelt erkundet. Köstlich, entzückend, herausragend. Er hat die Ken-Rolle übernommen, nachdem er eine Ken-Puppe seiner Tochter im Matsch hat liegen sehen. Seine Geschichte müsse erzählt werden, meinte er. Im Endeffekt ist Ken das gravitative Film-Zentrum und die personifizierte Unsicherheit der modernen Männlichkeit. „Barbie“ dekonstruiert Maskulinität und hinterfragt sämtliche Elemente der männlichen Hegemonie. Wie sie den Frauen am Lagerfeuer ewig Gitarre vorspielen, wie sie jeden Sport können, wie sie ihre Man Cave ausbauen und wie Frauen all dies begleiten mit Care-Arbeit. Leider versteckt sich diese Kritik an geschlechtlicher Ungleichheit in zu leichtfüßiger Ironie. Vielleicht fehlt hier die letzte Konsequenz.
Regisseurin Greta Gerwig hält alle Fäden zusammen. Sie erzeugt einen berauschenden Film mit passendem Rhythmus. Ruhige Momente der Selbstfindung und knackige Pop-Song-Choreografien wechseln sich ab, kleine Verfolgungsjagden durchbrechen familiäre Streitigkeiten. Die comichafte Dynamik funktioniert, doch Gerwigs Mastermind zeigt sich insbesondere im Drehbuch, das sie mit ihrem langjährigen Lebensgefährten Noah Baumbach (selber Regisseur, z.B. „Marriage Story“) voller popkultureller Referenzen schreibt. Wortwitze, Reminiszenzen – der Humor ist nicht platt, nicht zu simpel, auch nicht zu intellektuell. Auch hier gilt: es steckt so viel drin, dass einmaliges Betrachten nicht ausreicht.
Im Drehbuch stecken zudem eine Vielzahl spannender Aspekte. Was ist Sterben? Barbie und Ken beginnen zu zweifeln. Wie in Platons Höhle, wie Truman in seiner gleichnamigen Show, zweifeln sie an der immer gleichen Konstanz, den wiederholenden Tages-Kreisläufen. Sie stoßen an die Grenze zwischen eigener unperfekten Person und gesellschaftlichem Anspruch. Was werden sie finden? In einer herausragenden Szene erklärt eine Jugendliche alle Kritik an der Barbie-Puppe: ein menschlicher Körper wäre mit Barbie-Maßen nicht lebensfähig, mit Barbies spielende Kinder hätten ein verringertes Selbstbewusstsein, Essstörungen und ein völlig falsches Körpergefühl. In Barbie-Land waren sich noch alle einig: die Barbie hat für vollständige Emanzipation aller Frauen geführt – die Realität ist eine andere. Hauptdarstellerin Robbie gab an, das Ziel des Films sei es, die Erwartungen zu untergraben und dem Publikum „das zu geben, was man nicht wollte“. Diese Ansage entpuppt sich bisweilen als zu ambitioniert, sind doch die provozierenden Töne in Unterzahl (Mattel war stark an der Marketing-Kampagne beteiligt) und die Kritik am Patriarchat verschwimmt dezent in klassischer Selbstfindungsbotschaft. „Barbie“ regt dennoch merklich stärker zum Nachdenken an als die meisten Sommer-Blockbuster.
Und so setzt der Film dieser Puppe ein Denkmal. Mit Differenzierung für beide Seiten. Für die, die sich nostalgisch an ein geliebtes Kinderspielzeug erinnern. Und für die, die diese Repräsentation femininer Stereotype verabscheuen. „Barbie“ ist ein phänomenaler Film, der seinem Phänomen und den monströsen Begleitumständen gerecht wird. Mit gnadenlosem Humor, sensationeller Cosplay-Extravaganza und einer rosa-pinken Plastik-Welt zum Anfassen. Mit humanistischer Botschaft und reichhaltiger Gesellschaftskritik, die in entscheidenden Momenten ein wenig der Ironie zum Opfer fällt. Ein Spagat aus Abenteuer-Action, dystopischer Satire und Musical-Komödie. Eine ästhetisch atemberauende Tour existentieller Fragestellungen über das Leben und über das Miteinander, über Schubladendenken und Strukturkategorien. Und zum Schluss inszeniert Greta Gerwig ein nachdenkliches, berührendes Finale, in dem alle Gefühle auf das reduziert werden, worauf es ankommt: die Existenz jedes einzelnen Individuums.