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  • Bewertung

    Vom Staat im Stich gelassen.

    "I, Daniel Blake, demand my appeal date before I starve." prangt als Graffiti auf der Hausmauer des Arbeitsamtes. Davor steht besagter Daniel Blake (Dave Johns), die Fäuste in der Luft, Applaus und Zuspruch der Passanten erntend. Wenig später wird er von der Polizei abtransportiert, er bekommt "nur" eine Verwarnung. Viel wichtiger erscheint jedoch, was er mit seiner Aktion erreicht hat: die prekären Verhältnisse von Sozialhilfeempfängern sichtbar zu machen. Und es scheint, als wäre das auch das Leitmotiv von Loachs neuestem Film.

    Doch wie ist es so weit gekommen, dass ein Mann die Spraydose in die Hand nimmt und damit solch eine Botschaft hinterlässt? Wie lautet die Vorgeschichte, die hinter diesen Ereignissen steht?

    Der Gewinnerfilm der Goldenen Palme 2016 stellt eine Milieustudie dar, die sich im Nordosten Englands abspielt. Daniel, ein verwitweter Tischler Ende 50, kann nach einem Herzinfarkt nicht mehr seiner Arbeit nachgehen. Vor einigen Jahren starb seine Frau, seinen einzigen sozialen Kontakt stellt sein Nachbar dar, dessen Pakete er hin und wieder entgegennimmt. Nur mit viel Mühe und dank der Hilfe von anderen kann er die Online-Dokumente ausfüllen, die ihm seine Invalidenrente sichern sollen. Trotz Anraten der Ärzte wird ihm diese jedoch nicht bewilligt und für Daniel Blake beginnt eine Odyssee aus bürokratischen Hürden und Schikanen.

    Am Arbeitsamt kommt es allerdings auch zu einer Begegnung, die das Leben von Daniel nachhaltig verändern sollte: Er wird Zeuge, als die alleinerziehende Mutter Katie (Hayley Squires) sanktioniert wird, weil sie aufgrund von Verkehrsproblemen zu spät zu einem Termin erscheint. Blake setzt sich für sie und ihre beiden Kinder Daisy (Brian Shann) und Dylan (Dylan McKiernan) ein, was jedoch lediglich zu einem Rauswurf aller Beteiligten führt.

    Doch damit trennen sich die Wege der zufälligen Bekannten noch lange nicht: Daniel repariert baufälliges Mobiliar in Katies Wohnung und verbringt im Allgemeinen immer mehr Zeit mit der Familie - er wird zu einer Art Ersatz(groß-)vater. Doch mit der immer enger werdenden Bindung zwischen den Protagonisten kommen auch immer mehr Sorgen und Probleme: Als Katie sich aufgrund von Geldnot prostituiert und Daniels Gesundheitszustand immer schlechter wird, scheint ein Happy End in weiter Ferne gerückt zu sein.

    Man hofft zwar auf ebenjenes Happy End, aber es ist wie im realen Leben: manchmal gibt es keines, auch wenn man sich es noch so sehr wünscht. Doch das ist es nicht, was „I, Daniel Blake“ ausmacht, sondern viel eher die Gegebenheiten an sich, die sich vor unseren Augen entfalten - à la "Der Weg ist das Ziel".

    Während der Vorstellung des Filmes im Zuge der Viennale 2016 im Gartenbaukino erlebte ich einen der seltenen Fälle mit, wo augenscheinlich jeder Kinozuseher vom Film emotional mitgenommen war, jedenfalls dem Schniefen und Taschentuchrascheln zufolge. Mit Tränen in den Augen schritt man in das Tageslicht und machte sich Gedanken zur eigenen sozialen Sicherheit und wie schnell man abrutschen kann, ohne Schuld daran zu tragen. Und wie angewiesen man auf seine Mitmenschen ist, um nicht restlos zu vereinsamen. „I, Daniel Blake“ drückt zwar auf die Tränendrüse, ist aber trotz allem auch eines: ein Lichtblick.
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    01.10.2018
    11:20 Uhr
  • Bewertung

    Der Staat tötet seine Bürgere

    Ken ist wirklich der Größte. Solange dieser kleine, sympathische Brite großartige Filme macht, gibt es Hoffnung, dass das Abendland kulturell nicht untergeht.
    Wiederum schafft er es, ein brandaktuelles Thema solide recherchiert so umzusetzen, dass es emotional unter die Haut geht. Und sein Drehbuchautor John Laverty vergisst nie, die Situationen und Dialoge gelegentlich mit einem feinen Witz zu versehen.
    Das großartige an den Ken Loach Filmen ist die geniale Mischung aus thematischer Ernsthaftigkeit und dem Mutterwitz der Betroffenen. Und er geht mit der Zeit. Arbeitslosigkeit ist ja kein neues Thema für ihn, nur jetzt sind wir im voll digitalisierten 21. Jahrhundert, abhängig von gefühllosen IT Systemen, die nur drei Ziffern kennen: Eins, Zwei und Null. Auch die Unpersönlichkeit der Entscheider als Vertreter des Staates wird hier echt kafkaesk ad absurdum getrieben. Man muss sich einfach in ein unsichtbares Netz von sich teilweise widersprechenden Vorschriften verstricken. Dabei bleibt die Menschlichkeit auf der Strecke. Dan (Dave Johns), der auch zur postdigitalen Generation gehört, kann keinen Computer bedienen und läuft ziellos hin und her zwischen Sozialhilfe und Arbeitslosengeld. Im Grunde versteht er gar nicht, was da um ihn herum passiert.
    Ähnlich wie ihm ergeht es Katie (Hayley Squires), einer alleinerziehenden Mutter mit zwei Kindern. Für beide geht es auf der sozialen Leiter steil nach unten. Sie verdingt sich bei einem Escort Service und Dan will sie da rausholen. Katie verliert ihre Ehre als Frau, Dan sein Leben. Da hilft auch Nachbarschaftshilfe nicht. Echt tragisch und ausweglos. . Ken bringt es auf den Punkt. Es liegt wohl am System.
    Das ist keine schöne neue Welt, sondern leider Realität. Erschütternd ehrlich. Da gibt es Tränen der Rührung und des Zorns.
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    24.12.2016
    09:35 Uhr
  • Bewertung

    Von unten betrachtet

    Exklusiv für Uncut von der ViENNALE
    Daniel Blake (Dave Johns) ist ein 59-jähriger Witwer und lebt in Newcastle, England. Nach einem Herzinfarkt rät der Arzt ihm, erst wieder arbeiten zu gehen, sobald sich ein Zustand verbessert hat. Doch das britische Sozialamt sieht das anders: In nur wenigen Telefonaten wird Daniel wieder als arbeitstauglich eingestuft und bekommt keine Sozialunterstützung mehr. Er ist also medizinisch nicht arbeitsfähig und finanziell nicht überlebensfähig. Auch die alleinerziehende Mutter Katie (Haley Squires), mit der sich Daniel zunehmend anfreundet, will arbeiten, um ihren Kindern etwas bieten zu können, doch auch sie findet keinen Platz in diesem System, das ihr von Anfang an misstraut.

    Sowohl Daniel als auch Katie werden von Ken Loach als Opfer des Sozialsystems dargestellt: die Monologe beider handeln nur davon, möglichst schnell wieder aus diesem System herauszukommen. Es wirkt oft unwirklich, ja beinahe unglaubwürdig. Ist es aber nicht: Die dargestellte Armut gibt es tatsächlich. Und die, die täglich darum kämpfen, aus dieser Spirale herauszukommen auch. Ken Loach hatte ein Anliegen mit diesem Film: mit Daniel und Katie wollte er zwei Gesichter schaffen, die aus der anonymen Masse hervortreten und aufzeigen, dass es sich bei Gesellschaftsstatistiken, Arbeitslosenraten und SozialhilfeempfängerInnen um echte Menschen handelt.

    Streckenweise unterhält „I, Daniel Blake“ als schwarze Komödie, nicht zuletzt auf Grund der britischen Bürokratie. Ist man selbst betroffen bleibt allerdings wohl eher das Lachen in Hals stecken.

    Ja, die Handlung ist teilweise vorhersehbar und Ken Loach hat mit diesem Werk den Film nicht neu erfunden. Aber das muss er auch nicht: Er ist erschütternd echt und beweist damit eine filmische Stärke, die man auch nicht allzu oft zu sehen bekommt. Ken Loach gibt dem Publikum zwar Argumente, zu Schlüssen müssen die ZuseherInnen jedoch selbst kommen: Alleine dafür sollte man diesen Film gesehen haben.
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    03.11.2016
    12:23 Uhr