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    Hyppocrates und die moralische Verantwortung

    Die junge Ärztin Jenny Davin (Adèle Haenel) hatte ihre Praxis bereits geschlossen, als eine junge Frau klingelt. Sie öffnet nicht und erfährt am nächsten Tag, dass man ihre Leiche gefunden hat. Bedenken und Gewissensbisse veranlassen Jenny zu recherchieren. Und obwohl sie anfangs auf eine Mauer des Schweigens trifft, eröffnen sich ihr immer weitere Kontakte. Es bilden sich um den Plot mehrere konzentrische Kreise, die erkennen lassen, dass man sich kennt und dass das Mädchen nicht so unbekannt war, wie es der Titel verspricht. Der Zuschauer wird nur mit sehr sparsamen Informationen versorgt: an der Tür klingelte eine Farbige junge Frau. Jenny trifft über ihre Patienten auf einige Leute, die sie kannten. Ein Sozialdrama, das von einem Unfalltod losgetreten wird. Es geht vorrangig nicht so sehr um Mördersuche oder Aufklärungsarbeit, sondern um ein tragisches Aufeinandertreffen von meistens abseits des Mainstreams agierender Zufälle. Im Halbdunkel von Illegalität und Immigration reichen die Wellen, die dieser Fall aufwirft bis zur eigenen Verwandtschaft.
    Nur gelegentlich flackert latente Gewalt auf. Bei einem morphinabhängigen Vater (Jérémie Renier) etwa oder beim Verleiher von Campinganlagen (Olivier Gourmet). Komischerweise ist fast jeder bemüht, die Identität und den Namen des Mädchens geheim zu halten. Erst ganz am Ende erfahren wir sogar von zwei Namen des unbekannten Mädchens.
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    16.09.2021
    18:38 Uhr
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    Die Suche nach der Wahrheit.

    Es klingelt an der Tür. Da es bereits nach Ordinationsschluss ist, öffnet eine Ärztin jedoch nicht mehr den Eingang zu ihrer Praxis. Wenn es sich um einen Notfall handeln sollte, wird der- oder diejenige erneut läuten, so ihr Urteil. Am nächsten Tag wird am Hafen in der Nähe die Leiche einer jungen Frau aufgefunden. Alles deutet auf einen Mord hin. Die Polizei untersucht die Aufzeichnungen der Überwachungskameras der Praxis, welche die traurige Gewissheit bergen: bei dem späten Besucher vom Vorabend handelt es sich um das Opfer. Dr. Jenny Davin (Adèle Haenel) fühlt sich infolgedessen mit Schuldgefühlen konfrontiert, vor allem weil das Nichtaufmachen der Tür lediglich mit einer Machtdemonstration gegenüber ihrem Praktikanten einherging. Für sie zählt plötzlich nur noch eines: die Umstände der Tat sowie die Identität des getöteten Mädchens herauszufinden. Die Suche nach der Wahrheit um "das unbekannte Mädchen" wird für Dr. Jenny zur Lebensaufgabe.

    Handlungsort des neuesten Werkes der Dardenne-Brüder ist, ähnlich den vorherigen Filmen, die Heimatstadt der Filmemacher, der belgische Vorort Seraing. Aufgebaut fast wie ein Kammerspiel führt uns Jennys Reise von Wohnzimmer zu Wohnzimmer, von Patient zu Patient, wobei wir einerseits einen Einblick in deren Leben erhalten, gleichsam allerdings der Aufklärung des Mysteriums um das unbekannte Mädchen immer näher kommen.

    Geleitet von Schuldgefühlen übernimmt die Ärztin die Verantwortung um die Aufklärung des Mordfalls, die der Polizei abhanden gekommen zu sein scheint: Da es sich bei dem Opfer um eine Immigrantin handelt, erschwert dies nicht nur deren Identitätsfindung, sondern scheinbar auch die Dringlichkeit der Tataufklärung.

    Im Zentrum des Films steht die Figur Jenny, deren Darstellerin Adèle Haenel mit einer überzeugenden Darstellung punkten kann. Sie vermittelt eine breit gefächerte Vielfalt an Gefühlslagen, die immer wieder zwischen äußerster Distanziertheit und innigstem Mitgefühl zu schwanken scheint. Ihre Suche nach Antworten ist zentraler Gegenstand der Handlung, auf Liebesbeziehung und Freundeskreis wurde, so Luc Dardenne, absichtlich verzichtet. Jenny muss alleine mit den Vorfällen klarkommen und einen Weg aus ihrer Misere herausfinden, andere Personen hätten die Wandlung, die ihr Charakter im Laufe des Films durchmacht, nur gestört, meint er. Denn vor allem auch ihre zeitweilige Hilflosigkeit und der alleinige Kampf definiert sie.

    Jenny ist ein komplexer Charakter, der auf den ersten Blick eine Kühle ausstrahlt, die im Laufe der Zeit aber immer mehr von anderen Attributen ersetzt wird. Sie kümmert sich gewissenhaft um ihre Patienten und schlägt so sogar ein Angebot, die Anstellung an einer angesehenen Privatklinik betreffend, aus. Nur der eine Fehler - das Ignorieren der Türklingel und die daraus resultierenden Folgen - scheint sie, auch in ihrem Selbstverständnis, nachträglich zu schwächen.

    Bei „Das unbekannte Mädchen“ geht es nicht um die strafrechtliche Definition von Schuld, sondern um die ethische. Doch kann man Jenny wirklich ein moralisches Vergehen vorwerfen? Sie wusste nicht um die dringliche Lage, handelte nicht aufgrund fehlender Zivilcourage. Ihre Unwissenheit ist das Problem, nicht eine mögliche Egozentrik.

    Die Filme von Jean-Pierre und Luc Dardenne zeichnen sich zumeist, als Musterexemplare der Berliner Schule, durch Realismus und Gesellschaftskritik aus. So auch „Das unbekannte Mädchen“. Es handelt sich um einen ruhigen Film, der jedoch kraftvolle Bilder abliefert. Dr. Jenny steht in dessen Mittelpunkt, aber auch das Treffen auf unterschiedliche Charaktere, mit jeweils unterschiedlichen Backgrounds und Bezugspunkten zu dem Fall, ist ein wichtiger Prozess. So entfaltet sich vor unseren Augen ein Mysterium, welches zwischen Krimi und Sozialstudie verankert ist. Und den Zuseher auf eine gleichsam spannende wie auch gefühlsbetonte Reise mitnimmt.
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    01.10.2018
    00:03 Uhr
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    Schuld und Sühne

    Exklusiv für Uncut von der ViENNALE
    Jenny (Adèle Haenel) scheint alles richtig zu machen. Sie ist eine junge Ärztin, die auf Grund ihrer hervorragenden Leistung bald in einer Privatpraxis ordinieren darf. Bis dahin vertritt sie noch einen Hausarzt, in einer eher vernachlässigten Ecke der belgischen Stadt Liegè. Sie erklärt ihrem Assistenten mit Schärfe und Korrektheit, wie die Dinge laufen müssen und hat auch an sich selbst hohe Ansprüche. Doch als eines Abends die Klingel der Praxis läutet, öffnet sie die Türe nicht und bereut dies schon kurz darauf zutiefst: die junge Frau, die bei der Ärztin Zuflucht finden wollte, wird am nächsten Tag tot aufgefunden. Die Polizei ermittelt nun, ob es sich um ein Gewaltverbrechen handelt, hat jedoch Schwierigkeiten die Identität der Toten zu klären. Jenny macht es sich nun zum Ziel, den Namen des Mädchens herauszufinden, um ihre Familie zu finden oder die Tote zumindest beerdigen zu können.

    Während man der Ärztin dabei folgt, den kleinsten Hinweisen nachzugehen und dennoch ihre Arbeit gewissenhaft zu erledigen, wirken ihre Taten wie Buße. Der Minimalismus der Protagonistin ist dabei fesselnd, hohes Tempo ist nicht notwendig.
    Die Rolle der moralisch korrekten Ärztin, bei der nur selten Gefühlsregungen durchblitzen, kauft man Haenel sofort ab. Zum Ausbruch ihrer Emotionen kommt es allerdings nicht.

    Die Einsamkeit der jungen Ärztin scheint in dieses Bild zu passen. Abgesehen von den Beziehungen zu ihren Patienten, pflegt Jenny sonst keine Kontakte. Allerdings meinte Luc Dardenne im Publikumsgespräch, dass dies nicht gewollt ist, sondern einfach kein Platz mehr gewesen sei, um dieser Frau auch noch ein Privatleben zu geben.

    Wie schon in ihren früheren Filmen, erschaffen die Dardenne-Brüder eine Engelsfigur, die versucht das Ungleichgewicht der Welt auszugleichen. Man sieht wie sie sich durch die ärmsten Orte des belgischen Städtchens fragt, wie sie sich um alte Menschen kümmert und einen Lichtblick in deren Einsamkeit bringt. Die Geschichte entwickelt sich suggestiv und fesselt in ihrem moralischen Thema dennoch nicht ganz so wie beispielsweise in „Deux Jour, Une nuit“. Vielleicht liegt es auch daran, dass sich diesmal viel eher erahnen lässt, was kommen wird. Der Film lebt nicht so sehr von der moralische Zerrissenheit, manchmal wirken die Dinge hier einfach, sympathisch – fast wie in einem Tatort, nur länger.
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    31.10.2016
    21:57 Uhr