Die My Love

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Forumseintrag zu „Die My Love“ von Andretoteles

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Andretoteles (03.11.2025 13:58) Bewertung
Die Lüge der Mutterliebe
Nach „We don’t talk about Kevin” bohrt die schottische Regisseurin Lynne Ramsay abermals ins warme Herz der Mutterschaft. War es 2011 noch die krankhafte Psychopathie des Kindes Kevin, die zur Belastung wurde, taumelt die Mutter in „Die My Love“ direkt nach der Geburt des Babys in eine tiefe postpartale Depression. Jennifer Lawrence produziert gemeinsam mit Regielegende Martin Scorsese ihr Herzensprojekt. Scorsese befand sie als perfekte Besetzung in dieser Adaption der gleichnamigen Romanvorlage von Ariana Harwicz.

Das simple Setting: Grace (Lawrence) und Jackson (Robert Pattinson), sehr leidenschaftlich verliebt, ziehen aus New York ins ländliche Montana. Nach der Geburt ihres Kindes wird Grace dreifach isoliert: von der Gesellschaft, von ihrem lohnarbeitend distanzierten Freund und von sich selbst. Nur ihre Schwiegermum Pam (Sissy Spacek, bekannt als „Carrie“) und ein mysteriöser Biker geben den Anschein von Zivilisation. „Die My Love“ handelt vom Schein, von den großen Lügen der modernen Welt.

Es ist zum einen die Scheinfreiheit des Wohlstandsversprechens, das sich hier als neue Form der Unfreiheit entpuppt. Wer sehnt sich nicht nach einem üppigen Haus mit seiner Familie? Ist das nicht der allseits verbriefte Idealzustand? Der moderne Biedermeierstil? Ramsay sticht mit diesen Fragen mitten ins Herz gesellschaftlicher Musterzustände und positioniert Jennifer Lawrence in diesem Anwesen wie in einem Sozialexperiment: Was, wenn sich der Vermögenstraum in eine Isolationshölle mit schreienden Kindern, kläffenden Hunden und zerberstenden Glastüren verwandelt? Was, wenn das Haus kein Statussymbol, sondern ein mentales Gefängnis ist?

Nervtötende Töne in dieser Naturumgebung, die nie das Versprechen einer ach so ruhigen Entschleunigung einlöst. Dazu eine körnige, klaustrophobische 4:3-Bildsprache, in der sich Fantasie mit Wirklichkeit vermengt, in der Psyche und Umwelt nicht mehr getrennt werden. Hard Cuts und aggressiver Hard Rock zerschneiden die vermeintliche Stille, oft als Stilmittel, gelegentlich als plumpe Schrecksekunde. Ramsay komponiert ein beängstigendes Psychogramm, das zum Ende hin immer stärker ausfranst in episodenhafte Auswüchse der tranceartigen Krise. Auch der minimale Einschub einer einsamen Schriftstellerin („Shining“ lässt grüßen): gar nicht notwendig, die Banalität der Mutterschaft im ersten Jahr hätte ausgereicht.

Denn hauptsächlich verhandelt und entlarvt: Mutterschaft und Liebe als Lebensziel und Lebensglück. Auf Partys erleben wir die Oberflächlichkeit standardisierter Unterhaltungen, Grace wird zunehmend irrsinnig. Wer kann es ihr verübeln? Krasses Schlafdefizit, keinerlei Unterstützung und das Haus, in das sie eher gedrängt wurde. Ihre heteronormative Liebe: ein Fallstrick des Patriarchats, dem sie nicht entfliehen kann. Die Paardynamik: ungesund, unkommunikativ. Vorstellungen einer zuckersüßen Romanze: von Ramsay und Lawrence an den Haaren durch den Wald gezogen und buchstäblich verbrannt. Hochglanzaufnahmen: Fehlanzeige. „Die My Love“ ist der Abgesang an männliche Hegemonie, an kunterbunten Liebeskitsch und ein Ruf an alle Frauen: seid wachsam!

Unbedingt zu erwähnen: Jennifer Lawrence, die „Die My Love“ trägt und ein – im wahrsten Sinne – wahnsinniges Comeback feiert. Sie tanzt lebendig, sie kriecht mit Küchenmesser durch hohe Gräser, sie rekelt sich nackt, sie schreit, sie weint, sie zerkratzt Wände. Tabuloses Körperkino, umwerfend verstörende Physis, in der sich die schleichend irrsinnige Psyche Bann bricht. Mentale Leerstellen, aufgefressen durch den Drang des Körpers, durch sexuelle Sehnsucht, durch den unbändigen Wunsch nach Freiheit. Glücklicherweise verliert Lawrence nichts von ihrem beißenden Humor, würzen doch flapsig-schwarzhumorige Bemerkungen das Geschehen, lockern es auf.

Fazit: Nicht perfekt und nicht mehrheitsfähig. Form, Stil und der radikale Anti-Natalismus verhindern eine breite Rezeption dieses intensiven Kinoerlebnisses - leider. Es ist die Demontage einer Mutterschaft, die hier eher Zwangsregime als Kinderglück bedeutet. Getragen von einer imposanten, ekstatischen Jennifer Lawrence. Ein düsterer Bewusstseinsstrom, mal schrill, mal still, immer müde, immer befremdlich-ostentativ im Angesicht der modernen Lügen von Grundstücks-Wohlstand und Klischee-Hetero-Liebe. Ein Film, bei dem sich im wahrsten Sinne die Fingernägel hochklappen, provokant, unangenehm. Sehenswert!
 
 

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