One Battle After Another

Bewertung durch Andretoteles  85% 
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Forumseintrag zu „One Battle After Another“ von Andretoteles

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Andretoteles (26.09.2025 14:14) Bewertung
Widerstand am Brennglas der Gegenwart
Die Welt steht am Abgrund…möchte man meinen. An der Gesellschaft ziehen Fliehkräfte mit nicht zu bremsender Dynamik. Geopolitik, Kriege, Verrohung, Rechtsruck, Angst, Paranoia …Mit seinem zehnten Spielfilm, seinem neuen (bisher teuersten) Mammutwerk „One Battle After Another“ gießt der gefeierte Regisseur Paul Thomas Anderson (PTA) die gegenwärtigen Phänomene in Filmkunst. Die ersten Rezeptionen? Einheitliche Begeisterungsstürme! Nicht nur, dass die Bewertungsskalen aller US-amerikanischen Plattformen überlaufen - selbst Regisseur-Ikonen wie Spielberg und Scorsese überschlagen sich mit Lobeshymnen. Was macht diesen Film so stark?

Jetzt also Leonardo DiCaprio. Nachdem PTA bereits die Schar der besten Schauspieler dieses Jahrtausends vor seine Kamera bekam, ist jetzt DiCaprio dran. Als Bob Ferguson agiert er im Verborgenen als Teil einer Widerstandsgruppe, gezeichnet von der gewaltvollen Vergangenheit des politischen Aktivismus. Damals an seiner Seite: Perfidia, unwiderstehlich gespielt von Teyana Taylor. Mit ihr dringt Erotik in Bobs Leben, die in einem Baby gipfelt. Doch sie ist nicht bereit, zeigt Anzeichen postnataler Depression und verlässt Freiheit suchend die Familie. Sukzessive fliegen die antikapitalistischen Aktionen auf. Seitdem gilt für Bob: Untertauchen, Paranoia, Angst, Identitätswechsel, Drogen. Das Rezept eines tiefdunklen Thrillers ist vorbereitet…

Doch PTA bricht mehrmals die Verdüsterung durch satirische Einfälle. Von kiffenden Nonnen bis zu buchstäblich bombastischem Sex. Auch DiCaprios Figur balanciert Tragik und Humor. Seine Rolle des alternden Revoluzzers im Bademantel, der besser das „Rebellenhandbuch“ hätte lesen sollen, ist ein Mix aus Jordan Belfort, Howard Hughes und Big Lebowski - tollpatschig, psychotisch, neurotisch, naiv. Nicht zu glauben, aber wahr: seine Figur verblasst jedoch im Angesicht seiner mitstreitenden Casting-Crew. Denn in dieser ernsten sozial-kinematischen Gemengelage findet PTA mit den Mitteln der Satire eine Prise absurde Leichtigkeit, die teilweise ins Karikatureske driftet. Insbesondere Scene Stealer Sean Penn mit nervösen Mundwinkelzuckungen sticht heraus. Ein eindrucksvoller Antagonist, aufgefressen durch die psychischen Probleme eines toxisch-maskulinen White-Supreme-Idealbildes. Nicht zu vergessen der autoritäre Militarismus, den er repräsentiert. Er setzt als Colonel Lockjaw den Actionreigen in Gang, als er Bobs Tochter Willa sucht, die inzwischen zum Teenager herangewachsen ist. Sie bildet laut PTA „Herz und Zentrum des Films“ und man muss es hier ausdrücklich sagen: die Frauenfiguren sind brillant geschrieben. Nicht nur Perfidia als unkonventionell-eigenwillige Mutter fernab der Klischees, auch Willa als verletzliche Tochter in einem Sensationsdebüt von Chase Infiniti – beide Charaktere bleiben genauso im Gedächtnis wie diverse Bilderinnerungen.

Denn in Form und Machart ist „One Battle After Another” außerordentlich gelungen. PTA findet erfolgreich neue Bilder für das Kino am Puls der Zeit. Ein Maschinengewehr vor dem Babybauch, kurzrasierte Black-Power-Wut, zerschossene Wangen und eine nie gesehene Vehikel-Verfolgungsjagd, die als motorisierter Mexican Standoff in die Filmgeschichte eingehen wird. Die Kamera steht lang in Plansequenzen, nimmt die Vogelperspektive ein, ist dann wieder ganz nah, wechselt rücksichtslos die Distanz. Es herrscht ein Gefühl für Gesichter, Räume, für Klarheit, während im Hintergrund die atonale Musik dröhnt und enerviert. Und das in dieser unbarmherzigen Hektik einer Welt zwischen den Welten. Ohne Zeittafeln, dafür mit anachronistischem Interieur entstehen absichtliche Irrungen. Der Bezug zur Aktualität ist nicht einwandfrei, aber doch klar erkennbar, zur amerikanischen Welt im Speziellen.

Mit dem Hardliner Col. Lockjaw/Sean Penn überschwemmt die politische Situation den Film, er ist Kommandant der berüchtigten ICE, der Einwanderungsbehörde, die dieser Tage im September 2025 mit brutalen Razzien die Gazetten der Realwelt füllt. An ihm und dem ganzen Widerstandsteam entfacht sich ein wechselseitiger Raubtierstreifzug durch alle aktuellen Grabenkämpfe, durch alle Strukturkategorien – politische Ideologien, psychologische Abgründe, sexuelle Orientierungen, familiäre Patchwork-Arbeit. Das in den USA nie überstandene Rassismus-Problem, der extremistische Kampf zwischen Links-Anarchie und rechts-kapitalistischer Macht sowie Missbrauch des staatlichen Gewaltmonopols bis hin zu Verschwörungsmythen im weißen Untergrund. Teilweise verlieren sich die Ideen in der Kinematik des Films, in dieser unaufhörlichen Geschwindigkeit – bis alles auf eine berührende Vater-Tochter-Story reduziert wird. Da ist sie noch: Menschlichkeit in einer zerschnittenen Welt. Und eine Symbiose. Das Zurückwerfen all der Probleme auf die biologische Menschlichkeit, wenn alle sozialen Trennwände auf körperlicher Ebene verschmelzen. Symbiose als Symbol der Hoffnung. Dieses überreiche Deutungsangebot mag einige erschöpfen, für einen pessimistischen Abgesang der modernen Zeit müssen aber schwere Geschütze aufgefahren werden.

Fazit: Es ist das gegenwärtigste Filmmosaik, das gedreht werden konnte. Ein Werk des Jetzt. Ohne Rückschau, ohne Historizität, blanke Gegenwart, die einem pulsierenden Pulverfass gleicht – und auch so inszeniert ist. Eine fieberhafte Anti-Utopie, die handwerklich beeindruckt, die aufwühlt, der ein wenig mehr Ruhe, Herz und Nähe gestanden hätte. Im Gegensatz zum Kinopublikum, dessen Herz im Anti-Rhythmus des atonalen Klavierklimperns rast – dank Paul Thomas Andersons Unberechenbarkeit und Ideenfülle. „One Battle After Another“ ist ein Anti-Film, ein Film über die marodierte Gesellschaft, über das Gegen, das Gegeneinander der Menschen. Doch wenn am Ende das Licht angeht und Tom Pettys rauchige Stimme erklingt, hinterlässt uns Anderson einen Hauch Widerstand in dieser fragmentierten, unstillbaren Welt.
 
 

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