Augentropfen für Altersweitsicht
Jair Bolsonaro sitzt in dieser nahen Zukunft Gott sei es gedankt nicht mehr am Ruder. Der rassistische Umweltsünder hätte, wäre der Film die Realität, entweder eine nahe Zukunft wie diese verantwortet oder er säße, wenn nicht im Gefängnis, dann längst in einer dieser als euphemistisch bezeichneten Kolonien der über 75jährigen, die von der jüngeren Gesellschaft einfach nicht mehr er- und mitgetragen werden sollen. Es hemmt die Wirtschaft, heisst es in diesem Brasilien, denn die muss florieren. Da hat wohl niemand etwas davon, wenn die Alten von den Jungen ausgehalten und gepflegt werden müssen und dadurch das Bruttosozialprodukt nicht gesteigert werden kann. Natürlich fällt mir dabei Geier Sturzflug ein mit ihrem Klassiker der Neuen Deutschen Welle. „Wenn Opa sich am Sontag aufs Fahrrad schwingt und heimlich in die Fabrik eindringt“ – schon damals wusste man, das die ältere Generation irgendwann um ihre Pension kämpfen muss, würde diese es nicht möglich machen, bis zum Abnippeln an der Kurbel von wasweißich auch immer zu drehen, nur um, gezwängt zwischen Zahnrädern wie einst Charlie Chaplin, den prosperierenden Staat am Laufen zu halten.
Für die Alten das Abstellgleis
Was im Ganzen so aussieht, als wäre das eine menschenverachtende, ungerechtfertigte Erniedrigung jener, die Zeit ihres Lebens ihr Soll erfüllt haben, ist im Detail noch viel erniedrigender und bitterer. In den Städten des Amazonas kurven Pickups mit Käfigen hinten drauf durch die Straßen, um abgängige Alte, die nicht ins Lager geschickt werden wollen, einzusammeln. Tereza meint, auf die Archivierung ihrer selbst noch fünf Jahre warten zu dürfen, ist sie doch erst 75. Doch die Regeln haben sich geändert – die rüstige und keinesfalls inaktive Dame wird demnächst abgeholt, eine Woche Zeit bleibt ihr noch – um ihr selbst noch einen einzigen Wunsch zu erfüllen, bevor gar nichts mehr geht, nämlich zu fliegen, womit auch immer. Dafür begibt sie sich gegen den Willen ihres töchterlichen Vormunds an den Amazonas, fliegen und Bahnfahren darf die Entmündigte schließlich nicht ohne Genehmigung. Auf ihrer kleinen Odyssee trifft sie auf einen entrückten Bootsmann, völlig verpeilten Flugpiloten, rangelnden Süßwasserfischen (wie seltsam!) und einer längst pensionsfähigen, aber autarken Bibelverkäuferin, mit der sie Freundschaft schließt – und die es irgendwie geschafft hat, ihrem aufgehalsten Schicksal zu entkommen.
Die Tropen machen müde
Eine bittere, seltsam entschleunigte Zukunft ist das hier am südamerikanischen Megastrom, der mitunter eine Schnecke zu seiner Fauna zählt, die ein blaues Sekret absondert, welches das Bewusstsein erweitert und die Zukunft erahnen lässt – daher auch der Titel des Films. Als hätte Werner Herzog in der schwülen Tropenluft Brasiliens zwischen mehreren Nickerchen im Zustand des trägen Erwachens einen Film gedreht, tuckert Das tiefste Blau in entspannter Unentspanntheit und leicht erratisch durch einen Lokalaugenschein gar nicht vorhandenen Wirtschaftsenthusiasmus. Ist es nicht das Glücksspiel, bleiben die Jüngeren letztlich untätiger als die Alten. Eine gewisse Apathie macht sich hier breit, in der die ungestüme Tereza Spielraum genug findet, um sich aus dem Kreislauf einer deterministischen Zukunft durch einen ideenreichen Abschneider in die Wagemut herauszukatapultieren.
Mag sein, dass Das tiefste Blau die Welt nach der Arbeit zu einem einzigen Altersheim werden lässt und damit warnende Signale setzen will, nicht so unachtsam mit denen umzugehen, die uns zu dem gemacht haben, was wir sind. Und dennoch engagiert sich Gabriel Mascaro in seiner Coming of Overage-Fantasterei zu wenig, sondern lässt seine auseinanderklaffenden Szenen, die viel Nichterzähltes voraussetzen, wie Wachepisoden einer viel dichteren Geschichte erscheinen. Das macht das Ganze bruchstückhaft, den Blick in eine Richtung setzend, die das Publikum nicht trifft.
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